Roman - Andreas Maier: "Die Heimat"
"Ortsumgehung" heißt das auf elf Bände angelegte autobiographische Großprojekt, mit dem Andreas Maier die eigene Herkunft in und um Friedberg, Bad Nauheim, die Wetterau und vielleicht noch Frankfurt am Main erforscht und erinnert. Nach dreizehn Jahren ist er nun beim neunten Band "Die Heimat" angekommen, ein Titel, der auch über dem Ganzen stehen könnte.
Maier hat zunächst in der Kindheit angefangen und den Fokus vom "Zimmer" über "Das Haus", "Die Straße", den "Ort" und den "Kreis" erweitert. Das ging von Band zu Band chronologisch durch die eigene Jugend, bis hin zur "Universität". Dabei nahm er auch in den Blick, wie sich vom Kind zum Jugendlichen zum jungen Mann die Welt allmählich öffnet und verändert. Maiers "Ortsumgehung“ ist Familiengeschichte und eine Geschichte der Bundesrepublik aus der Provinzperspektive, die die Veränderungen des Wirtschaftswunderlandes bis in die Gegenwart hinein nachzeichnet.
Das drückt schon der Oberbegriff "Ortsumgehung" aus, denn nichts hat das Land wohl so sehr verändert wie die Automobilisierung und der Straßenbau mit den Ortsumgehungstrassen. Man fährt nicht mehr durch die Orte, sondern um sie herum, was nicht nur zur Zerstörung der Landschaften, sondern auch zur Verödung der Gemeinden führte. "Ortsumgehung" ist aber auch eine Metapher für das, was Maier literarisch unternimmt: Wieder und wieder "umgeht" er die eigene Heimat, umkreist sie unter verschiedenen Aspekten, nun, im aktuellen Band, indem er den Begriff "Heimat“ und dessen Wandlungen in der Bundesrepublik zum Thema macht.
Ein paradoxer Begriff
Heimat, sagt er da gleich zu Beginn, ist ein "schwarzes Loch", ein "schwarzer Begriff". Er schreibt also keine erbauliche "Heimatliteratur", sondern ganz im Gegenteil: Heimat ist immer etwas Versunkenes, Verlorenes, etwas, das es schon nicht mehr gibt oder das es nie gab. Dem entsprechen bereits seine frühen Erinnerungen. Damals, in den 70er Jahren, sprach niemand von Heimat, jedenfalls nicht in Bezug auf die eigene Umwelt. Der Begriff kam nur im Zusammenhang mit den "Heimatvertriebenen" vor und paradoxerweise mit den Fremden, den "Gastarbeitern" und anderen, die ihre "Heimat" verlassen oder verloren hatten. Außerdem gab es die "Heimatfilme", aber die spielten in Österreich oder in Bayern, und die Menschen trugen dann seltsame, fremdartige Kleidung. Heimat hatte etwas Künstliches, Verlogenes an sich, was mit dem großen Schweigen über die NS-Zeit und ihre Folgen zusammenhing.
Heimat und Gedenkkultur
Im Gegensatz zu den ersten Bänden der "Ortsumgehung", die sich jeweils einer bestimmten Zeit widmeten, macht Maier nun einen Schnelldurchlauf mit vier Kapiteln über vier Jahrzehnte von den Siebzigern bis in die Nuller-Jahre. So kann er nachzeichnen, wie sich der Heimatbegriff geändert hat. Er erinnert den Schock, den die Fernsehserie "Holocaust" Ende der 70er auslöste oder ein Film über die Befreiung eines KZs, der in der Schule gezeigt wurde. Lange Zeit versuchte er vergeblich zu begreifen, was das eigentlich ist, ein "Jude". Niemand sprach je darüber, dass es vor 1933 Juden in seiner Heimatstadt gab. "Mein Text ist so "judenfrei" wie meine Heimatstadt", schreibt Maier. Auch die Gedenkkultur kreist um ein "schwarzes Loch".
Zwischen Autofiktion und soziologisch-historischer Analyse
Die Besonderheit der "Ortsumgehung" besteht in der Verflechtung von erzählerischen und essayistischen Passagen. Die Erinnerungen sind bereits vom Verstehen durchdrungen, so wie Reflektionen erzählerisch sind. Was Maier Roman nennt, ist ein Mittelding zwischen Autofiktion und soziologisch-historischer Analyse. In "Die Heimat" überwiegt das Essayistische. Das liegt vielleicht daran, dass das Erinnerungsmaterial nach neun Bändern allmählich auserzählt ist. Das Buch endet jedoch mit einer Geschichte: Nach Jahrzehnten besucht Andreas Maier eine Waldgaststätte wieder, in der nach Jahrzehnten noch alles unverändert ist – sogar der Gestank in der Pissrinne, vor der die Idee, über Heimat zu schreiben, entsteht.
Noch fehlen zwei Bände, doch Maiers "Ortsumgehung" ist jetzt schon literarisch so unverzichtbar, wie es Edgar Reitz Film-Serie "Heimat" aus den 80er Jahren ist. Reitz ist Maiers "Die Heimat" auch gewidmet. Das Motto stammt von Glasisch, dem Ortschronisten aus Reitz‘ fiktivem Hundsrückdorf Schabbach. Schon der hat gewusst, dass die Straßen früher von Ort zu Ort führten, heute aber drum herum. Da muss dann die Literatur einspringen und festhalten, was in den Orten geschah.
Jörg Magenau, rbbKultur