Roman - Joshua Cohen: "Die Netanjahus"
"Joshua Cohen ist der Philip Roth von morgen." Wenn der Schriftsteller Maxim Biller einen zwanzig Jahre jüngeren Kollegen zum Nachfolger eines Autors erklärt, in dessen Tradition er sich selbst sieht, dann bewundert er ihn wirklich. Und zwar für den Roman "The Netanjahus“, mit dem Joshua Cohen 2021 den National Jewish Book Award for Fiction gewann und 2022 den renommierten Pulitzer Preis in der Kategorie Fiction. Jetzt ist "Die Netanjahus“ in der großartigen Übersetzung von Ingo Herzke bei Schöffling und Co erschienen.
"Oder vielmehr der Bericht über ein nebensächliches und letztlich sogar unbedeutendes Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie“, so lautet der Untertitel des Romans, der den verkaufsfördernden Etikettenschwindel "Die Netanjahus“ selbstironisch bricht. Denn man erfährt in diesem Buch über Benjamin Netanjahu, den scheinbar schicksalhaften Ministerpräsidenten Israels, fast nichts, einiges über seinen Vater, und noch mehr über einen Historiker namens Ruben Blum, anno Ende 1950/Anfang 1960.
"Ich kam mit nicht ganz weißer Haut auf die Welt, aber als ich heranwuchs, wurde sie dicker.“
Blum ist der Ich-Erzähler, Zeuge und Erfinder dieses schonungslosen Romans seines Lebens. Er ist ein Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer, die der Shoah entkommen und in New York City gestrandet sind. Literatur interessiert ihn, aber seine akademische Nische wird die Geschichte der Steuern. Nur nicht auffallen, lautet sein Credo, besser: anpassen, assimilieren.
An der fiktiven Corbin University in Corbindale am Rande des Staates New York ergattert er eine Professur. Als einziger Jude auf dem Campus mimt er auf Wunsch der christlichen Kollegen alljährlich den Weihnachtsmann, er hat so einen passenden Bart. Seine Frau darf in der Bibliothek arbeiten, seine Tochter Judy hasst das verschlafene Nest, aber mehr noch ihre höckerige Nase. Und irgendwie schafft es Joshua Cohen, dass man gebannt in das Provinzleben dieses Ruben Blum eintaucht, unter seine "nicht ganz weiße Haut“, bis jenes "nebensächliche und letztlich sogar unbedeutende Ereignis in der Geschichte einer sehr berühmten Familie“ Thema wird: die Bewerbung eines gewissen Ben-Zion Netanjahu aus Israel an der Cobin University
Von "Mileikowski“ – "der Mann aus Mühlstadt“ – zu "Gottgegeben“ (die großspurige Bedeutung von „Netan-jahu“)
Benzion Netanjahu, so heißt der reale Vater des realen Benjamin Netanjahu. Wohl in keiner Phase seines langen Lebens – er ist 2012 mit 102 Jahren in Jerusalem gestorben – zweifelte der Historiker an seinem ultrarechten Zionismus. In Cohens Roman ist Ben-Zion Netanjahu ein Propagandist, der "die Pogrome zur Zeit der Kreuzzüge mit der iberischen Inquisition und der Naziherrschaft in Verbindung bringt“ und "eine zyklische Form jüdischer Geschichte behauptet, die dem Mystizismus gefährlich nahe kommt“. Dass er damit in Ben-Gurions Israel ein Außenseiter ist, bestätigen die Briefe klatschfreudiger Akademikerkollegen aus Israel, die Benzions Antrittsbesuch in Corbindale vorauseilen.
Da erklärt ein Peretz Levavi (Peter Lügner) (!) aus Jerusalem, wie aus Mileikowski – dem ursprünglichen Familiennamen – Netanjahu, "Gottgegeben“, wurde, und wie sehr die israelische Geisteswelt sich wünscht, den gottgegebenen Ben-Zion (Sohn Zions) nach Amerika loszuwerden. Den Kosmos der frühen jüdisch-amerikanisch-israelischen Beziehungen aus Anerkennungssucht, Missgunst, Neid, Armut und Genie breitet Cohen genüsslich aus. Pointe am Rande: Ruben Blum darf entfernt an den Literaturwissenschaftler Harold Bloom erinnern, der Joshua Cohen kurz vor seinem Tod vom Campusbesuch "eines obskuren israelischen Historikers Ben-Zion Netanjahu“ in New Haven erzählte. Dieser Roman ist auch eine herrliche Gerüchteküche.
"Die Karte irrt sich“, sagte Netanjahu.
Als die Netanjahus endlich auftauchen, Ben-Zion mit Frau Zila und den Söhnen Jonathan, Benjamin und Iddo, bleibt im Hause Blum niemand und nichts verschont. Cohen zieht alle Slapstick-Register, wobei ein Farbfernseher, das löchrige Schuhwerk des Gelehrten Ben-Zion, eine Windel des jüngsten Netanjahus Sohns Iddo und der steife Penis des ältesten Sohns Jonathan (der reale gilt seit seinem Tod bei der Rettung der Flugzeugentführungs-Geiseln von Entebbe 1976 als israelischer Nationalheld) markante Rollen spielen. Die Netanjahus wissen nicht einmal genau, wo sie sind; das Familienoberhaupt weiß alles besser: "Die Karte irrt sich.“
Der Roman kulminiert in einem phantastischen Chaos. Antisemitismus, Zionismus, Judentum, Identitätspolitik, Feminismus – all diese Themen funkeln darin in ungeahnten Farben hervor. Man kommt aus dem Lachen und Staunen gar nicht mehr heraus: pures Leseglück. Die beste Gelegenheit, über die Netanjahus zu lachen, bevor man wieder über "König Bibis" Regierungspolitik verzweifelt ...
Natascha Freundel, rbbKultur