Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt © S. Fischer
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Frankfurter Poetikvorlesungen - Judith Hermann: "Wir hätten uns alles gesagt"

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In der Berliner Kastanienallee habe sie vor einiger Zeit, nachts, vor einem Spätkauf, ihren früheren Analytiker getroffen, "zwei Jahre nach dem Ende der Psychoanalyse und zum allerersten Mal außerhalb des Raumes, in dem ich jahrelang auf seiner Couch gelegen hatte". So beginnen Judith Hermanns Frankfurter Poetikvorlesungen, die sie 2022 an der Goethe-Universität hielt und die nun bei S. Fischer als Buch erschienen sind.

"Wir hätten uns alles gesagt. Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben", heißt dieser Band, und schon der Titel trifft grammatikalisch und inhaltlich den ganzen Kosmos des Judith Hermannschen Schreibens.

Vom Schweigen und Verschweigen

Durch den Konjunktiv schwingt alles mit, was getan, gesagt, geschehen hätte können; also all das, was zum Leben und Denken der Figuren in Judith Hermanns Büchern gehört: die Träume, das Vorgestellte, die Wege, die auch hätten gegangen werden können. Und mit dem direkten Benennen des "Schweigens und Verschweigens" spielt die Autorin auf all die Leerstellen an, die in ihren Texten eingewoben werden, Nichtgesagtes, Unbewusstes, und eben auch: bewusst Verschwiegenes, Verheimlichtes.

"Es gibt Sätze, die zu nah dran sind an der Wirklichkeit", schreibt sie an einer späteren Stelle, "Sie gehören der Wirklichkeit, sind von der Wirklichkeit nicht zu trennen".

Am eigenen Leben entlangschreiben

Die Begegnung mit dem früheren Analytiker, mit dem sie in dieser Nacht noch in einer Bar sitzen wird, löst ein Nachdenken über Erzähltes, Gesagtes, Wirkliches und Unwirkliches aus. "Ich schreibe über mich", liest man da, "ich schreibe am eigenen Leben entlang, ein anderes Schreiben kenne ich nicht." So sei ihr damaliger Analytiker Vorbild für die Figur des Dr. Gupka im Erzählungsband "Lettipark" gewesen, von der Kleidung bis hin zur Einrichtung der Praxis. "Und selbstverständlich", fährt Judith Hermann fort, "ist die Ich-Erzählerin ich, ich bin das, diese Frau, die Teresa heißt". Eine Frau, die von Nacktschnecken träumt und in den ersten Monaten der Analyse nicht gesprochen, sondern geschwiegen habe.

Aber dann – natürlich! – setzt Hermann nachfolgend einen Kontrapunkt: "Und selbstverständlich ist diese Ich-Erzählerin eben genau nicht ich". Das gelte auch für den Analytiker, beide Figuren, Analytiker und Patientin, seien "Träume, aufgeschriebene Wünsche".

Widersprüchliches, das gar nicht widersprüchlich sein muss

Zwischen diesen Polen spannt Judith Hermann ihre Überlegungen zum Schreiben auf – und während man ihre drei Vorlesungen liest, manifestiert sich mehr und mehr die Erkenntnis, dass das, was auf den ersten Blick so widersprüchlich erscheint, gar nicht so widersprüchlich sein muss. Denn wer kann das schon, sobald es um Literatur geht: eine klare Trennlinie ziehen zwischen dem, was vermeintlich geschehen ist und dem, das vermeintlich erfunden wurde? Welchem Schreibprozess liegt kein Wildern im eigenen Leben zugrunde, ein Erweitern, Vergrößern, Verändern, mehr oder weniger phantasievoll?

"Erinnerungen sind wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will", soll Cees Nooteboom gesagt haben - eine freundliche Umschreibung davon, dass die Fiktion ohnehin immer im Spiel ist, wenn es um Erinnerungen geht – in der Weise, wie man sich etwas erzählt und zurechterzählt, welchen Blickwinkel man wählt oder welche Deutung man einem Ereignis überstülpt.

Die Analytikerin Judith Hermann

Judith Hermann trifft in diesen Vorlesungen nicht nur ihren Analytiker, sie tritt hier auch selbst als Analytikerin auf und legt ihr Denken und Schreiben und Leben sozusagen auf die Couch. Der melancholisch-ruhige, traurig-treffende und erhellend-klarsichtige Blick mitten in das Wesen ihrer Figuren, den man aus ihren Romanen und Erzählungen kennt und für den sie viele schätzen, ist in diesen Vorlesungen von der ersten Seite an genauso unverkennbar wie sonst. Und so fragt man sich schon bald, was eine Judith Hermann eigentlich das Genre kümmert: Vorlesungen oder Erzählungen, Erinnerungen oder Romane - das sind nicht die Kategorien, in die sich das Schreiben dieser Autorin eingrenzen lässt.

"Wir hätten uns alles gesagt" liest sich wie eine Verkettung von miteinander verwobenen Erzählungen und Geschichten, die vermutlich oft autobiografisch inspiriert sind, doch, so heißt es in der dritten Vorlesung, es sei "beruhigend, anzunehmen, dass es immer mehrere Wahrheiten gibt".

In der zweiten Vorlesung liest man über ein Puppenhaus, mit dem sie gespielt hat, eines mit versteckten Räumen und Tapetentüren und fensterlosen Verliesen. Man liest über eine Kindheit, die vielleicht der ihren ähnelt. Aber darum geht es an dieser Stelle schon nicht mehr. Schon längst liest man atemlos die Berichte der Ich-Erzählerin, die von einer brüchigen, traurigen Kindheit erzählt, in der nicht gelacht wurde. Sätze wie diese stehen da: "Mein Vater zog die Vorhänge zu, weinte, dann zerschlug er das Geschirr. Grauenhaft. Meine Mutter kam unbegreiflich spät nach Hause, manchmal hatte ich den Eindruck, ich hätte mir meine Mutter nur eingebildet".

Eine Kindheit mit vielen Leerstellen beschreibt Hermann hier: Sie könne sich nicht einmal daran erinnern, dass gesprochen worden wäre, nur gelesen.

Am Ende ist nichts mehr richtig, aber alles wahr

Es ist mit diesen Texten, diese Lesart streut Judith Hermann selbst am Ende der ersten Vorlesung aus, nämlich so: Alles, was hier erzählt wird, zieht – so eine Formulierung der Autorin – die Dinge weiter ins Offene. Oder, wie es ihr Analytiker in einem Brief über die Geschichte "Träume" aus "Lettipark" an die Autorin schrieb (zumindest erzählt es Judith Hermann hier so): "was für eine unermüdliche Detailarbeit, alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen, dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr".

Anne-Dore Krohn, rbbKultur

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Judith Hermann gilt als eine der wichtigsten zeitgenössischen Autor:innen in Deutschland. 2021 war sie mit ihrem Roman "Daheim" für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Nun gewährt sie in ihrem neuen Buch ein wenig Einblick in ihr Schreiben und Leben. "Wir hätten uns alles gesagt" beruht auf der Frankfurter Poetikvorlesung, die Judith Hermann im vergangenen Jahr gehalten hat. Wie viel Biografie und wie viel Fiktion stecken in einer Geschichte? Was zeigt Literatur und was verbirgt sie? Ein Gespräch mit Judith Hermann.

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