Martin Suter: Melody © Diogenes
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Roman - Martin Suter: "Melody"

Bewertung:

Bevor Martin Suter zum Schriftsteller mit Bestseller-Garantie avancierte, war er in der Werbe- und PR-Branche tätig. Seine Romane spielen oft im Milieu der Schönen und Reichen, denen etwas Halbseidenes und Zwielichtiges anhaftet. Seine Figuren frönen einem ausschweifenden Lebensstil und umgeben sich mit Kunstwerken, deren Herkunft im Dunkeln liegt. Besonders erfolgreich ist die Krimi-Serie um den Gentleman-Gauner Allmen, die inzwischen auf sechs Bände angewachsen ist. Sein neuer Roman heißt zwar "Melody" - doch um Musik geht es allenfalls am Rande.

Der Titel ist eine der falschen Fährte, die Suter gern auslegt in seinen Romanen, die rätselhafter sind, als man zunächst denkt. Sie sind wie die ineinander steckenden russischen Holzpuppen gebaut: Keine Figur ist, was sie scheint, in jeder Handlung versteckt sich noch eine andere unerwartete Geschichte.

"Melody" - die verschwundene Geliebte

Musik dient dem Autor nur dazu, eine bestimmte Atmosphäre und Stimmung zu erzeugen: Dr. Peter Stutz dreht den Kult-Song "Whole Lotta Love" von Lea Zeppelin auf volle Lautstärke, denn der in einer herrschaftlichen Villa am Zürichsee logierende Dr. Peter Stotz will seinen Liebeskummer besiegen und seine seelischen Verwüstungen betäuben: Der Alt-Nationalrat, einst ein einflussreicher Politiker und erfolgreicher Unternehmer und noch immer umtriebiger Strippenzieher, ist nie darüber hinweg gekommen, dass seine Verlobte ihn von einem Tag auf den anderen verlassen hat, kurz vor der Hochzeit verschwunden ist und nicht wieder gesehen wurde. Niemand weiß, ob sie entführt und ermordet wurde oder unter anderem Namen noch lebt.

Es gibt unzählige Spekulationen, aber keine Gewissheiten über das Schicksal der aus Marokko stammenden Frau, die Tarana hieß, aber von allen "Melody" genannt wurde, weil sie so fröhlich war, so klug und schön wie ein gutes Lied, das man nicht aus dem Kopf kriegt.

Das alles ist jetzt 40 Jahre her. Dr. Stotz ist inzwischen alt und gebrechlich - höchste Zeit, das Geheimnis der verschwundenen Geliebten zu lüften. Behilflich dabei könnte vielleicht die Hauptfigur des Romans sein, Tom Elmer. Aber gewiss ist es nicht, denn die Wirklichkeit ist nur ein schöner Schein, der die eigentliche Wahrheit verschleiert.

Nachlassordnung

Tom, ein junger Jurist, der seinen Platz im Leben sucht und unbedingt einen Job braucht, reagiert auf eine Anzeige: "Gesucht: Vertrauenswürdiger, gebildeter jüngerer Mann für Nachlassordnung, juristische Vorkenntnisse erwünscht, Vollzeit, faire Bezahlung".

Er hat keine Ahnung, in was er hineingerät, als er das erste Mal die Villa von Dr. Stotz betritt, er weiß nichts von "Melody" und dem Rätsel ihres Verschwindens. Tom ist fasziniert und zugleich abgestoßen von Reichtum und Macht des alten Herrn, vom morbiden Flair der Villa, die Bezahlung ist üppig, das Essen vom Allerfeinsten. Die Tätigkeit ist genauso seltsam wie simpel: Er soll den Nachlass von Stotz sichten und ordnen, alles entsorgen, was dem Bild eines guten Menschen und kunstsinnigen Gönners widerspricht.

Traum und Realität vermischen sich

Die Notizen und Akten bergen manches Geheimnis, das nicht öffentlich werden darf. Viel spannender ist aber, was Stotz abends am Kamin bei Wein und Whiskey über "Melody" berichtet, über seine Liebe zu ihr und seine lebenslange Suche. Doch je mehr Tom erfährt, desto deutlicher spürt er, dass Stotz nicht der ist, der er vorgibt zu sein, und dass er mehr über das Verschwinden von "Melody" weiß, als er der Welt glauben machen will: dass sein Leid und Kummer vielleicht nur Teil einer Inszenierung und eines Theaterstücks ist, das Stotz der Welt vorspielt.

Auch die Verschwundene ist nur - im übertragenen Sinne - nur eine Erfindung, denn jeder hat sie anders in Erinnerung, jeder erzählt seine eigene Wahrheit, als Tom sich nach dem Tode seines Dienstherren aufmacht, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen und zu überprüfen, was dran ist an den Geschichten, die Stotz ihm erzählt hat.

Tom, der durch das Testament des Verstorbenen gut versorgt ist, reist kreuz und quer durch die Welt, sucht Orte auf, an denen sie angeblich gesehen wurde, spricht mit dem Polizisten, der den Vermissten-Fall damals bearbeitete, besucht ihre Familie in Marokko, streng gläubige Moslems, die Melody mit dem Tode bedrohten für den Fall, dass sie einen Ungläubigen heiratet.

Je tiefer Tom in die Recherche eintaucht, desto facettenreicher wird das Bild, das er von Melody bekommt: mit dem Bild, das Stotz entworfen hat, und mit den geschönten Gemälden, die in der Villa hängen, haben seine Erkenntnisse über Melody nichts mehr zu tun. Traum und Realität vermischen sich, und Suter wäre nicht Suter, wenn er nicht noch ein paar Fantasie-Pfeile im literarischen Köcher hätte, ein paar Wendungen und Überraschungen einbauen würde.

Elegant, geschmeidig - und elitär

Der Roman ist spannend konstruiert, spielt genüsslich mit billigen Vorurteilen und vorschnellen Deutungen, findet hinter jeder bröckelnden Fassade einen Abgrund an Lügen: Alles ist elegant und geschmeidig erzählt. Doch Suter kultiviert die Attitüde des Genießers und Gourmets: Jede Mahlzeit wird detailliert beschrieben, jedes ausgefallene Gewürz abgeschmeckt, jeder Wein muss teuer und jeder Whiskey alt sein und auf der Zunge sein unvergleichliches Aroma entfalten. Das hat manchmal etwas befremdlich Elitäres, neureich Abstoßendes: Wenn Suter darauf verzichtet hätte, wäre es nicht nur ein guter, sondern ein rundum gelungener Roman geworden.

Frank Dietschreit, rbbKultur