Roman - Tarjei Vesaas: "Der Keim"
Der norwegische Autor Tarjei Vesaas dürfte nicht so vielen Leser*innen ein Begriff sein, doch in Skandinavien sieht das anders aus: Der norwegische Starautor Karl Ove Knausgård bezeichnete Tarjei Vessaas‘ Roman "Die Vögel" als "besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde". Bevor der 1970 verstorbene Autor mit "Die Vögel" weithin bekannt wurde, hatte er aber 1940 seinen ersten größeren Erfolg mit dem Roman "Der Keim", eine symbolstarke philosophische Parabel zu Fragen von Schuld und Sühne. Der Guggolz Verlag gibt das Buch nun in einer Neuübersetzung heraus.
Welche Schuld laden wir auf uns, wenn wir Unrecht geschehen lassen? Welche, wenn wir aktiv Unrecht begehen, aber alle anderen mitmachen? Verringert das unsere individuelle Schuld? Können wir jemals unsere Schuld sühnen? Das sind Fragen, die heute so aktuell sind wie zu der Entstehungszeit von Tarjei Vesaas "Der Keim" im Jahr 1940. Mitten während der deutschen Besatzung Norwegens, als der norwegische Widerstand keine Chance mehr hatte und die Kollaborateure Oberhand gewannen, schrieb Vesaas diese Parabel: Die freundlichen und fleißigen Bewohner einer paradiesisch grünen und fruchtbaren Insel werden über Nacht zu Mördern, zu einem blutlüsternen Mob.
Die Hölle im Paradies
Der Auslöser ist ein Fremder, der ihre Insel betritt: "Er stand allein auf dem Anleger. Niemand erwartete ihn, niemand holte ihn ab. Er schien noch nie hier gewesen zu sein, sich aber hierher gesehnt zu haben: Er schaute sich neugierig um, durstig auf alles, was er sah, das Wachsen und Reifen überall, das die Luft schwer von Kräuterduft machte – die außerdem noch Seeluft war. Eine milde Stimme schien tröstend zu sagen: – Andreas …"
Andreas Vest heißt dieser fremde Neuankömmling, der ohne Ziel und ohne Gepäck – offenbar nicht Herr seiner Sinne - über die Insel wandert, erstaunt beobachtet von den Inselbewohnern. Zugleich spielt sich auf dem größten und schönsten Hof der Insel ein Drama ab: Die Säue im Schweinestall drehen durch, zwei verunglücken dabei tödlich, die dritte frisst ihre neugeborenen Ferkel auf. Gerade noch beschrieb Vesaas die rosigen zufriedenen Schweine, gleich darauf bricht die Hölle los. Ein Omen von vielen, das diese durch und durch allegorische und symbolstarke Erzählung düster überschattet:
"Mit einem Knallen trafen die Zähne aufeinander, sie gruben sich in die Speckschwarte, bis ins Fleisch. Oberflächliche Verletzungen nur, die Kraft und Raserei bloß noch steigerten. Die Sauen bestanden durch und durch aus wilder Wut. Jegliche Art toter Ruhe war abgeschüttelt wie eine Maske – es erwies sich, dass sie nichts waren als gefährliche Energie und Kraft."
Hauchdünne Wand zwischen Zivilisation und Barbarei
Die Katastrophe liegt von der ersten Seite an drohend in der Luft und doch erzählt Vesaas ruhig und fast schon liebevoll von der Familie auf dem großen Hof, von der Liebe der Eltern zu ihren Kindern, den Schicksalen der Nachbarn, die sich alle kennen und achten. Er nimmt sich die Zeit, ein und dieselbe Szene aus verschiedenen Perspektiven erneut zu erzählen, während der wahnsinnige Fremde unausweichlich zum Mörder wird und damit die düstersten Instinkte der Inselbewohner ebenso unausweichlich zum Leben erweckt:
"Sie wären nicht satt und bereit, sich wieder zu beruhigen. Nein. Nur sein Leben konnte den Drang stillen. Da flieht etwas Verzweifeltes, etwas Lebendiges. Fangt es … Immer weniger wussten sie für sich selbst, warum sie so nach Blut trachteten. Aber sie trachteten dem, den sie jagten, nach dem Blut. Und würden es bald bekommen. Lange konnte er ihnen nicht mehr entgehen."
Vesaas zeigt meisterhaft, wie leicht die offenbar hauchdünne Wand zwischen zivilisierter Gesellschaft und dem barbarischen Abgrund der menschlichen Seele durchbrochen werden kann.
Eine kluge und aufrüttelnde Pflichtlektüre
Tarjei Vesaas hatte mit "Der Keim" seinen ersten großen Erfolg als Schriftsteller, danach sollten noch größere folgen, wie "Die Vögel" oder "Das Eisschloss". Mehrmals war er für den Literaturnobelpreis im Gespräch. Dabei schrieb Vesaas in der deutlich weniger literarisch verwendeten norwegischen Sprache "Nynors", die im Gegensatz zum "Bokmål" näher am alten Norwegisch der ländlichen Bevölkerung ist, aus der er stammte. "Der Keim" erschien bereits in den 1960ern als "Die Nachtwache" gekürzt in Deutschland. Hinrich Schmidt-Henkel hat diese ungewöhnliche Erzählung nun wieder in voller Länge neu übersetzt und zum Leben erweckt. Gerade in der jetzigen Zeit, in der Kriege und gesellschaftliche Umbrüche die Menschen in ihren Überzeugungen erschüttern, ist dieses Buch eine kluge und aufrüttelnde Lektüre, die schon fast eine Pflichtlektüre ist.
Nicht nur, um zu verstehen, wie schnell Menschen ihre moralischen Grundsätze über Bord werfen, sondern auch, wie schnell sie sich wieder reinzuwaschen versuchen, um zu überleben: "Aber jetzt richteten sie sich wieder auf, innerlich gestärkt. Im Staub schien ein Keim verborgen gewesen zu sein. So dass man aufstehen konnte. Mit geklärtem Blick, und man sah, wie ruhig und ungestört Leben und Tod in ihren Bahnen liefen. Bald würde sich die Sonne wieder zeigen, Gras und Laub waren grün."
Irène Bluche, rbbKultur