Essay - Clemens Meyer: "Über Christa Wolf"
Die Frage hat nichts von ihrer Aktualität verloren: "Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?" Christa Wolf fragte so in ihrer großen autobiografischen Spurensuche "Kindheitsmuster" aus dem Jahr 1976. Clemens Meyer, geboren 1977 in Leipzig, nimmt ihre Frage knapp 50 Jahre später wieder auf. Es ist ein Menschheitsfrage und zugleich der Ausgangspunkt jeglicher Selbsterforschung, denn – und so begann Christa Wolf ihr Buch mit einem Zitat von William Faulkner: "Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen."
Das Vergangene, das bleibt, ist für Clemens Meyer die DDR, in der er seine Kindheit verbrachte. Oder vielmehr die DDR-Literatur. Oder, noch genauer: der Teil der Literatur, der für das Bessere der DDR steht, für ihre uneingelösten Hoffnungen und Möglichkeiten. Sein Buch mit dem schlichten Titel "Über Christa Wolf" ist weit mehr als nur das. Es ist eine Liebeserklärung, die man von diesem Schriftsteller, der den Nimbus des Proletarischen und des Plattenbaus pflegt, nicht unbedingt erwartet hätte.
Gespräch mit den Toten
Immer, wenn er in einen literaturwissenschaftlichen Jargon abzugleiten droht, schreckt er zurück. Er sucht das Gespräch mit all den Toten, die lebendig geblieben sind, und ordnet ihre Stimmen um sich herum zum Chor: Bertolt Brecht, Louis Fürnberg, Franz Fühmann, Anna Seghers, Wolfgang Hilbig, Heiner Müller und natürlich und vor allem Christa Wolf. Ihre Bücher haben ihn zeitlebens begleitet, allen voran "Kindheitsmuster", das im Mittelpunkt dieses sehr persönlichen Essays steht.
In seinem Leipziger Arbeitszimmer spricht Meyer mit einer Büste Christa Wolfs auf dem Fensterbrett. Auf der anderen Straßenseite erstreckt sich das weitläufige Gelände einer verfallenen Fabrikanlage, von der aus Meyer zurückblendet in die frühen 60er Jahre, als Christa Wolf "Der geteilte Himmel" schrieb und ihre Heldin Rita in so eine Fabrik schickte. Wolf selbst gehörte damals zu den Pionierinnen der Literatur der Arbeitswelt und leitete im Waggonbau Ammendorf einen "Zirkel schreibender Arbeiter".
Clemens Meyer berichtet, wie er nach dem Abitur auf den Bau ging, weil er das Gefühl hatte, ohne Erfahrungen und Berührungen mit der Wirklichkeit nicht schreiben zu können. "Kindheitsmuster" hatte er immer dabei, um in den Arbeitspausen darin zu lesen.
Meyer will Chrisa Wolf als Nachgeborener verstehen
Seine Verbindungen zu Christa Wolf sind vielfältig – bis hin zu dem Phänomen, dass der Titel seines ersten Romans "Als wir träumten" eine Stelle aus ihrer Rede vom 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz aufnimmt und sein zweiter Roman "Im Stein" denselben Titel hat wie eine Erzählung von Christa Wolf. Heute über sie zu schrieben bedeutet für ihn, sich auch mit den "Angriffen" auf ihre Person auseinanderzusetzen, mit ihrem mutigen Auftritt auf dem berüchtigten 11. Plenum der SED 1965 ebenso wie mit den westdeutschen Attacken nach 1989, als sie zur "Staatsdichterin" erklärt und als "IM Margarete" diskreditiert wurde.
Meyer will nicht urteilen wie die damaligen Feuilletonisten, sondern als Nachgeborener verstehen. Er spürt in ihren Texten die "Zerrissenheit", unter der die Damaligen litten. "Ihr habt eine Sprache und eine Form gesucht, die neu sein kann und das Neue besingt und dennoch der Kunst, der Literatur verpflichtet ist, der Zerrissenheit, der Endlichkeit, der Hoffnung.", schreibt er. Genau darin liegt die Kraft und die Gegenwärtigkeit dieser fast schon versunkenen Literatur, die er wieder ins Gedächtnis holen möchte.
Der Ukraine-Krieg hätte Wolf zutiefst erschüttert
Bei der Lektüre von "Kindheitsmuster" entdeckt Meyer, dass es in diesem Buch über die Prägungen einer Kindheit im Faschismus hinaus sehr wohl auch Bezüge zum Stalinismus gibt – dessen Ausblendung Christa Wolf von Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki einst vorgeworfen wurde. Meyers gründliche Lektüre revidiert dieses Urteil.
Er registriert so erstaunt wie entsetzt, dass dieses Buch über Krieg und Flucht und die traumatischen Folgen im Jahr 2022 mit dem Ukrainekrieg plötzlich wieder brandaktuell geworden ist. Es ist ein Krieg, so schreibt er, der Christa Wolf zutiefst erschüttert hätte: "Die, die einst befreiten, sind nun die Aggressoren. 'Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen?' Die Welt ist endgültig aus den Fugen."
Ein luzider, anregender Essay
Dabei weiß er sehr wohl, dass die Befreier von einst auch damals schon als Gewalttäter agierten, und zitiert Passagen aus "Kindheitsmuster", in denen es um Vergewaltigungen geht. Dass darüber nie geschrieben worden wäre, ist also auch verkehrt. Einer der Wolf-Sätze, dem er folgt, lautet: "Die Wächter vor den Toren des Bewusstseins abziehen."
"Über Christa Wolf" ist ein luzider, anregender Essay, der dazu verführt, Christa Wolf und all die anderen, die da zitiert werden, wieder zu lesen, weil Meyer sie aus der verstaubten Kiste "DDR-Literatur" herausholt. Die Toten lebendig werden zu lassen ist das Verdienst seines suchenden, begeisterungsfähigen, liebevollen aber nie unkritischen Schreibens.
Jörg Magenau, rbbKultur