John Irving: Der letzte Sessellift © Diogenes
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Roman - John Irving: "Der letzte Sessellift"

Bewertung:

Ob "Garp und wie er die Welt sah", "Witwe für ein Jahr", "Lasst die Bären los!","Das Hotel New Hampshire", "Bis ich dich finde", "Letzte Nacht in Twisted River": alle Romane von John Irving sind internationale Bestseller. Manche wurden auch erfolgreich verfilmt: Für das Drehbuch von "Gottes Werk und Teufels Beitrag" bekam Irving sogar einen Oscar. Seine Bücher sind oft viele hundert Seiten stark. Auch der neue Roman des 81-jährigen Autors ist mit 1.088 Seiten ziemlich rekordverdächtig ...

Paradox: Man fühlt sich zugleich ermattet und erfrischt: Immer wenn einem die Puste auszugehen droht und man den literarischen Ziegelstein am liebsten in die Ecke pfeffern möchte, spürt man den unbändigen Drang, bloß nicht schlapp zu machen - und wird dafür immer wieder von diesem Desperado der amerikanischen Literatur, der so süffig und urkomisch, politisch völlig unkorrekt und über die Maßen geistreich erzählen kann, reich belohnt.

Irving greift noch einmal in die literarische Trickkiste

In seinem fünfzehnten und vielleicht letzten großen Roman greift John Irving noch einmal in die literarische Trickkiste und lässt der Fantasie freien Lauf, entwirft ein üppiges Gesellschaftspanorama der USA und mehrere Liebesromane, beschreibt autofiktional die eigene Familiengeschichte und die politischen Abgründe Amerikas, lässt die Gespenster von Verstorbenen herumgeistern und beklagt die Bigotterie und Prüderie eines Landes, das sexuelle Minderheiten ausgrenzt, Homosexuelle verfolgt, aber den durch kirchliche Würdenträger begangenen Kindesmissbrauch vertuscht. Es gibt freizügige, deftige Erotik und herbe, politische Anklagen, satirisch überzeichnete Figuren, bizarre Handlungsfäden, mit denen Irving meisterlich jongliert.

Richtig genießen kann den Roman aber wohl nur, wer das Werk Irvings kennt und spürt, welchen Spaß es ihm macht, seine erprobten, oft wiederkehrenden Motive noch einmal neu durchzubuchstabieren und augenzwinkernd mit seinen früheren Büchern zu spielen.

Wieder dabei: Klein gewachsene Menschen, Ringen, Sex - aber keine Bären

Es gibt auch jetzt wieder klein gewachse Menschen, lange Passagen über das Ringen, jede Menge Sex, der zu unliebsamen Verletzungen führt, rätselhafte Familienverhältnisse und ungeklärte Vaterschaften, starke Frauen und schwache Männer, einen Erzähler, der in Exeter/New Hampshire aufwächst und viele Jahre nach seinem Erzeuger sucht: also dem Autor John Irving ziemlich ähnlich ist, auch er ein passionierter Ringer, der mit einer starken, allein erziehenden Mutter aufwuchs und fast 50 werden musste, bis er die Identität seines Vaters herausbekam und erfuhr, dass er einen Halbbruder hat.

Weil der junge Irving eine zeitlang in Wien verbracht hat, gibt es auch im Roman wieder Menschen mit österreichischen Wurzeln, die Wiener Schmäh sprechen und das Harry-Lime-Thema auf der Zither spielen können.

Doch es gibt diesmal keine Bären, die einem die Hand abbeißen oder die man mit der Bratpfanne in die Flucht schlagen muss - dafür aber ein literarisches Alter Ego, das viel über Schreibkunst, sexuell Obsession und politische Haltung Irvings verrät, der wie sein Alter Ego Amerika nicht mehr ertragen kann, die kanadische Staatsbürgerschaft angenommen hat und jetzt in Toronto lebt.

Die Geschichte von Adam Brewster führt von 1941 bis in die direkte Gegenwart

Adam Brewster führt uns von seiner Geburt im Jahre 1941 bis in die direkte Gegenwart. Er hat eine kleinwüchsige Mutter, Rachel, genannt Little Ray, die einmal eine erfolgreiche Skiläuferin war und bis ins hohe Alter als Skilehrerin arbeitet. Bei einem Skirennen in Aspen/Colorado, da ist sie gerade einmal 18, lässt sie sich von einem Vierzehnjährigen schwängern, den sie nie wieder sehen wird. Sie benutzt den Jungen mit kleinem Penis als Samenspender, denn sie ist lesbisch und lebt mit Molly zusammen, einer Pisten-Pflegerin und Skiretterin.

Um die gesellschaftlich geächtete Beziehung zu kaschieren, heiratet sie pro forma einen Mann, der zu ihr passt: Auch er ist klein, schlüpft gern in Frauenkleider und wird schließlich selbst zur Frau.

Adam liebt dieses sensible Wesen abgöttisch, es ist im College sein Englischlehrer, bringt ihn zum Ringsport und wird später seine Bücher lektorieren. Adam liebt überhaupt alle Familienmitglieder, die Großmutter, die ihm Melvilles "Moby-Dick" vorliest und in die Geheimnisse der Literatur einweist, den dementen Großvater, der zum Kleinkind mutiert, in Windeln herumläuft, bei der Hochzeit von Rachel im Gewitter herumgeistert und von einem Blitz erschlagen wird.

Er liebt Nora, seine lesbische Cousine: zusammen mit Emily, genannt "Em", die sich nur pantomimisch ausdrückt, tritt sie in einem New Yorker Comedy-Club auf, nimmt in ihrem Programm "Zwei Lesben, eine spricht" die politischen und sexuellen Verirrungen Amerikas aufs Korn und wird von einem homophoben Zuschauer während der Vorstellung erschossen.

Surreale und absurde Szenen

Es gibt viele solcher surrealen Szenen, die Adam noch einmal Revue passieren lässt. Besonders absurd sind die beiden Reisen, die Adam unternimmt, um seinen Vater kennenzulernen - verrückt auch, zu welchem Kunstgriff Adam alias Irving greift, um diese Begegnungen zu beschreiben. Adam nervt seine Mutter so lange, bis er zu wissen glaubt, wer sein Vater sein könnte - nämlich ein kleinwüchsiger Schauspieler und Drehbuchautor, der in Aspen/Colorado als Sohn eines mexikanischen Zimmermädchens aufgewachsen ist und immer wieder an den Ort seiner Kindheit und ins Hotel "Jerome" zurückkehrt.

Als Adam im "Jerome" absteigt, trifft er die Gespenster von Toten wieder, die er schon als Kind in seinen Alpträumen gesehen hat und die jetzt in der Bar abhängen und Country-Musik hören. Adam hat vorher die Filme seines Vaters in allen Details studiert, jetzt beschreibt er die Begegnung mit ihm und den Geistern der Vergangenheit als Drehbuch zu einem nicht gedrehten Film, der einen nicht mehr loslässt, mit Regieanweisungen, Dialogen, Voice-Over-, Musikeinspielungen: Ganz großes Kino, total abgedreht, völlig verrückt - allein diese beiden Drehbuch-Sequenzen lohnen die Lektüre des Romans.

Ein mit Fantasie prall gefüllter Roman

Seinen Titel hat er, weil mit dem "letzten Sessellift" nicht nur die letzten Skifahrer nach oben auf den Berg, sondern auch die Toten nach unten ins Tal gebracht werden. Und ohne zu viel zu verraten: Es gibt Romanfiguren, die aus dem Sessellift fallen und sich zu Tode stürzen, auch einige, die krank, alt und des Lebens überdrüssig sind, nachts in eisiger Kälte auf dem Berg bleiben, sich mit Alkohol betäuben und den Freitod wählen, und dann, steif gefroren, morgens mit dem Sessellift tot nach unten gebracht werden.

Das alles ist fürchterlich traurig, aber auch ungeheuer komisch. Genügend Stoff für viele gute Bücher. Zu der oft in Melancholie versinkenden großen Liebe seines Lebens sagt Adam einmal: "Es gibt einen Grund, warum wir Romane schreiben. Das wahre Leben ist zum Kotzen. Unser Geschäft ist die Fantasie."

Mit Fantasie ist der Roman so prall gefüllt, dass er fast überläuft.

Frank Dietschreit, rbbKultur

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