Ralf Rothmann: Theorie des Regens © Bibliothek Suhrkamp
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Notizen - Ralf Rothmann: "Theorie des Regens"

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Im Mai wird Ralf Rothmann 70 Jahre alt. Das erstaunt bei einem Autor, der, wie er in seinen Notizbüchern immer wieder feststellt, stets jünger aussah als er war und der auch in seinen Büchern jung geblieben ist. Ein Lautsprecher oder einer, der sich im Literaturbetrieb nach vorne drängt, war Rothmann nie. Grundlage und Materialsammlung fürs Schreiben sind seine Notizbücher, aus denen nun unter dem Titel "Theorie des Regens" einige Kostproben zum Geburtstag erscheinen.

Die Romane über das Aufwachsen im Ruhrgebiet haben Ralf Rothmann in den 90er Jahren berühmt gemacht. Es folgten die Berlin-Romane und zuletzt die Trilogie über den Zweiten Weltkrieg.

36 Notizbücher aus 50 Jahren

Als Notizbuchschreiber hat er zwar nicht die manische Besessenheit eines Peter Handke, dem sich alles, was ihm begegnet, in Text verwandelt. Doch 36 Notizbücher sind auch bei ihm im Lauf von 50 Jahren zusammengekommen. Die frühesten Aufschriebe stammen aus dem Jahr 1973 und führen von dort aus chronologisch bis in die unmittelbare Gegenwart der Corona-Pandemie und des Ukrainekrieges. Doch nur die Passagen, die sich der Verwertung in Romanen oder Erzählungen widersetzt haben und also übriggeblieben sind, haben es nun in die Auswahl geschafft.

Es sind Gedankensplitter, Fragmente von Geschichten, Beobachtungen, Aphoristisches und Reiseerlebnisse wie die Überführung eines Mercedes von Deutschland nach Persien oder ein längerer Aufenthalt des jungen Mannes auf dem amerikanischen Kontinent.

Politisches spielt dabei kaum eine Rolle oder nur indirekt, etwa dann, wenn in einem exiljugoslawischen Café in Paris im Jahr 1992 Tresenbereiche und Tische plötzlich verfeindete Landesteile darstellen und eine ungute Atmosphäre herrscht. Von Politik und Politikern scheint Rothmann generell nicht viel zu halten. Wichtiger ist es ihm, die Intensität des Lebens durch Anschauung und Anteilnahme zu steigern.

"Das Leben rächt sich an dem, der sich weigert, die Dinge der Welt mit glücklichen Augen zu betrachten", schreibt er und weiß, dass "das Schöne sich von unserer Liebe ernährt."

Notizen voller Schönheit und Erkenntnis

Da Rothmann schreibend darum ringt, die Welt auf diese Weise zu betrachten, sind seine Notizen selbst voller Schönheit und Erkenntnis. Dass es dabei immer wieder auch um die Bedingungen des Schreibens und um Publikationen geht, versteht sich bei einem Schriftsteller. Schreiben ist dessen spezifische Art, in der Welt zu sein oder, wie Rothmann es formuliert: "Schreiben heißt wahrhaftig sein unter fiktionalen Bedingungen."

Auch die Kraft der Liebe, aus der das Schöne sich nährt, nimmt im Lauf der Jahre zu. Immer wichtiger wird in den Aufzeichnungen die Frau, mit der Rothmann sein Leben teilt und die es immer wieder vermag, ihn mit ihren Gedanken und Reaktionen zu verblüffen. "Man kann Liebe nicht halbieren, wohl aber verdoppeln", notiert Rothmann.

Die titelgebende "Theorie des Regens" kommt an zwei Stellen vor. Zunächst taucht die Formulierung beim Besuch eines Theaterstücks von Brecht Anfang der 90er Jahre auf, wo der Regisseur Bausand und Kiesel aus dem Schnürboden regnen lässt. Diese staubige Theorie des Regens kann Rothmann nicht überzeugen. Das gelingt erst 15 Jahre später, als er die "Weltformel" als "alles umfassende Theorie" entdeckt, während "der Regen in die Pfützen kritzelt".

Natur bietet demnach die besseren Antworten und liegt Rothmann allemal näher als das Artifizielle. Nicht nur darin ähnelt er dem bewunderten und verehrten Peter Handke, dem er sogar einmal, im Januar 1992 in Paris, begegnet.

Ungemein persönlich

Rothmanns Notizen sind ungemein persönlich. Sie geben, ohne dass er allzu viel über sich selbst schreibt, Auskunft über ihn, weil sie ganz direkt und Augenblick für Augenblick das gelebte Leben festhalten. Daraus ergibt sich ein Lebenslauf, aber keine nachträgliche autofiktionale Konstruktion. Das Leben ist ja keine Erzählung, sondern bruchstückhaft.

Aus den Notizen als Einzelpunkten ergibt sich im Lauf der Jahrzehnte dann aber doch eine Linie, die zur Erkenntnis des Schönen führt: "Aus dem Zugfenster, frühmorgens: flacher Bodennebel bei Uelzen, und darüber das durchsonnte, gelbe Spargelkraut, wie ein wogendes Feuerfeld. Nicht wir sehen das Schöne – es sieht uns an. Es ist die Augenfarbe des Numinosen, eine Facette in seiner Iris."

Jörg Magenau, rbbKultur

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