Roman - Salman Rushdie: "Victory City"
Mit der Fatwa zu leben, hieß für Salman Rushdie immer auch, sie zu ignorieren. Er wollte nicht wegen des Todesurteils, das die iranischen Mullahs 1989 über ihn verhängt hatten, berühmt sein, sondern wegen seiner Literatur. Das ist bei seinem heute erscheinenden neuen Roman "Victory City" wieder einmal nicht ganz einfach. Das Buch war gerade fertig, als Rushdie im August des vergangenen Jahres Opfer eines Messer-Attentats wurde. Er überlebte nur knapp, verlor jedoch die Sehfähigkeit auf einem Auge und das Gefühl im linken Arm. Aber er lässt sich, wie er in Interviews sagt, weder vom Trauma noch von den Schmerzen unterkriegen, auch wenn ihm das Schreiben seither schwerfällt.
"Victory City" könnte also mit etwas weniger Glück und Überlebenswillen das Vermächtnis Rushdies sein. Der Roman würde das aushalten, denn er enthält alles, was Rushdie ausmacht: Sein Plädoyer für Toleranz und das Bekenntnis zum Miteinander der Religionen. Seine Liebe zu Frauen und zur weiblichen Emanzipation. Seine überbordende Phantasie und die Vorliebe für märchenhaftes, mythisches Erzählen. Seinen Glauben an die Kraft der Worte und die Macht der Literatur. Und sein Wissen um die Vergänglichkeit auch der festesten Mauern und der schrecklichsten Regime.
Pampa Kampana - eine Dichterin mit übermenschlichen Kräften und übernatürlichem Alter
Der Roman beginnt im 14. Jahrhundert und schildert die Geschichte der südindischen Stadt Bisnaga und des hinduistischen Königreiches Vijayanagar. Der Autor, der sich in kurzen Zwischenbemerkungen zu erkennen gibt, behauptet, ein altes Epos in prosaischer Sprache nachzuerzählen, ohne an die Schönheit des kunstvollen Originals heranzureichen. Dessen Dichterin ist die sagenhafte Stadtgründerin Pampa Kampana, die 247 Jahre alt wurde, um bis zum Untergang des Reiches die Chronik der Stadt aufzuschreiben. Als Neunjährige verlor sie ihre Mutter, die bei einer Witwen-Massenverbrennung für sich den Feuertod wählte. Dieses schreckliche Erlebnis ist dem Mädchen der Antrieb, selbstbestimmt zu leben und sich für die Rechte der Frauen einzusetzen.
Eine Göttin verleiht ihr übermenschliche Kräfte und ein übernatürliches Alter, so dass sie die eigenen Kinder, Enkel und Urenkel an sich vorbei altern und sterben sieht. Aus dem Saatgut, das sie säen lässt, wachsen Mauern und Gebäude aus dem Erdreich hervor – und auch die Menschen, die die neue Stadt bevölkern. Sie sind zunächst buchstäblich unbeschriebene Blätter, denen Pampa Kampana, um die Schöpfung zu vervollkommnen, ihre jeweilige Geschichte einflüstert.
Als Erzählerin ist sie eine göttliche Schöpferin, die schafft, was sie in Worte fasst. "Die Fiktion kann so mächtig sein wie die Historie", lässt Rushdie seinen Nacherzähler oder eben die Dichter-Schöpferin sagen. "Dies war das Paradox der geflüsterten Geschichten: Sie waren zwar nur erfunden, aber sie schufen eine Wahrheit und ließen eine Stadt und eine Armee mit der reichen Vielfalt nichtfiktionaler, in der realen Welt tief verwurzelter Menschen wirklich werden."
Umsetzerin freiheitlicher Ideen
Trotz ihrer magischen Fähigkeiten bleibt Pampa Kampana ein leidender, Anteil nehmender Mensch. Von großer Schönheit und mit einer nahezu ewigen Jugend ausgestattet, ist sie ein erotisches Wesen voller Leidenschaft, das sich immer wieder in Liebesabenteuer stürzt. Auch sie ist Teil der Geschichte.
Die Könige kommen und gehen. Liberale und tyrannische Herrscher wechseln sich auf dem Thron ab, was für sie, die alles hervorbringt aber doch auch geschehen lassen muss, ein wechselhaftes Schicksal bedeutet. Mal muss sie mit ihren Töchtern ins Exil, mal kann sie als verehrte Regentin ihre freiheitlichen Ideen umsetzen: Freiheit der Religionen, der Dichtung und der Künste, Frauenrechte, sexuelle Emanzipation. Unumstritten ist das nie. Und als sie am Ende einer eigentlich liberalen und fortschrittlichen Phase in Ungnade fällt, wird sie zusammen mit dem Berater des Königs geblendet.
Das ist eine der schrecklichsten und eindrucksvollsten Szenen, die auf seltsame Weise über den Roman hinausweist: als hätte Rushdie da schon hineingeschrieben, dass er wenig später beim Attentat ein Auge verlieren würde.
Das große Glaubensbekenntnis Rusdies
Am Ende des Buches, als blinde und nun wirklich alte Frau, die den Tod herbeisehnt und die Eroberung Vijayanagars durch muslimische Truppen miterleben muss, notiert die unvergessliche Heldin Pampa Kampana: "Für mich ist die Zeit des Verlangens vorbei. Alles, was ich mir jetzt noch wünsche, steckt in meinen Worten, und die Worte sind alles, was ich brauche."
Es gelingt ihr, das Manuskript, an dem sie ihr ganzes langes Leben lang gearbeitet hat, in Sicherheit zu bringen. Sie weiß, dass ihre Worte alles sind, was bleibt und man sich an jeden Einzelnen nur so erinnern wird, wie sie ihn beschrieben hat. "Ich selbst werde nun auch zu Nicht", endet sie. "Was bleibt, ist die Stadt der Worte. Worte sind die einzigen Sieger."
Es ist das große Glaubensbekenntnis Salman Rusdies, das mit "Victory City" und seiner übermenschlichen Dichterin Literatur geworden ist.
Jörg Magenau, rbbKultur