13 Erzählungen erstmals auf Deutsch - Joy Williams: "Stories"
In ihrer Heimat, den USA, gilt Joy Williams vielen als eine der besten und aufregendsten Schriftstellerinnen des Landes. Die inzwischen 79-jährige Autorin hat Romane und Kurzgeschichten, Essays und Reiseführer verfasst. "Joy Williams", hat Kult-Autor Raymond Carver einmal gesagt, "ist einfach ein Wunder." Doch hierzulande ist sie lange übersehen worden und so gut wie unbekannt. Das soll sich jetzt endlich ändern. Bei dtv sind 13 ihrer schönsten und schillerndsten Erzählungen erschienen, ausgewählt von Joy Williams, erstmals ins Deutsche übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz.
Völlig unverständlich, warum Joy Williams erst mit Jahrzehnten Verspätung hierzulande entdeckt wird, bedenkt man, dass deutsche Leser süchtig sind nach Lesestoff aus Nordamerika und alles verschlingen, was Autor:innen wie Siri Hustvedt, Margaret Atwood, Paul Auster, T. C. Boyle veröffentlichen - oder Jonathan Franzen, der in an dtv-Chef Alexander Fest schrieb: "Ich bin ein bisschen schockiert, dass sie in Deutschland keinen Verlag hat."
Großmeisterin der strahlend-düsteren Kurzgeschichte
Jetzt können wir endlich eine kleine Auswahl des riesigen Werkes bestaunen und die Autorin, die immer eine Sonnenbrille trägt und abweisend und geheimnisvoll wirkt, als das entdecken, was sie ist "die strahlend düstere Großmeisterin der Kurzgeschichte", wie Lauren Groff gesagt hat.
Es sind Stories voller Poesie und Rätsel, Witz und Wahnsinn, abgründig komisch, absurd und skurril und geradezu hypnotisch, mindestens genauso gut wie die Stories von Raymond Carver, Carson McCullers, Richard Yates und Alice Munro, um nur einige der herausragenden nordamerikanischen Autor:innen zu nennen. Sie stammen aus einem Zeitraum von über 40 Jahren (1972 bis 2014) und sind einem Sammelband entnommen, den Joy Williams 2015 in den USA unter dem Titel "The Visiting Privilege" herausgebracht hat. Die Sprache ist knapp und präzise, scharfkantig, gnadenlos. Die in den Geschichten wie herrenlose Hunde herumstreunenden und nach dem verlorenen Glück suchenden Individuen sind von universeller Einsamkeit und Verzweiflung. Williams erzählt von Menschen, "die praktisch gegen das Leben selbst allergisch sind."
Geschichten von universeller Einsamkeit und Verzweiflung
Eine Geschichte - "Liebe" - beginnt mit lässig hingeträufelten Sätzen, die einen sofort packen und einen Erzählkosmos aufreißen: "Jones, der Prediger, hat sein Leben lang geliebt. Er staunt selbst darüber, denn soweit er es beurteilen kann, hat es nie jemanden genützt, auch wenn es gewürdigt wurde, was selten der Fall war. Jones´ Liebe ist viel zu offensichtlich und weckt Gleichgültigkeit." Jetzt sitzt Prediger Jones am Bett seiner sterbenskranken Frau im Krankenhaus, und Williams notiert: "Sie steht dort unter Beobachtung und unter Beschuss, und sie hat Jones verlassen. Wie eine Schwimmerin, die darauf wartet, mit dem Ertrinken voranzukommen." Während sie langsam in ihrer Krankheit ertrinkt, kümmert sich Jones um ein kleines Kind, denn Jones´ Tochter ist nach Mexiko abgehauen und hat ihr Baby bei Jones gelassen, der sich rührend um die Kleine kümmert: Er kann nicht anders, er muss sich kümmern und alle lieben, auch seine Frau, die sich längst von ihm entfernt hat und die er zum Sterben nach Hause holt, schließlich ist doch Weihnachten, das Fest der Liebe: "Jones", schreibt Williams, "hilft seiner Frau die Stufen zur Tür hinauf. Zusammen betreten sie die strahlenden Räume."
Es gibt also - manchmal - noch ein wenig Hoffnung, auch für Dwight und Lucy, die in Langeweile und Routine ersticken und "Rost" angesetzt haben. Über Lucy heißt es: "Als kleines Mädchen hatte sie auf dem Schulweg mal einen Briefumschlag mit ihrem Namen drauf gefunden, aber er war leer gewesen." Sie wusste nie so recht, wer sie war und was sie wollte. Also hat sie Dwight geheiratet, obwohl der 25 Jahre älter als sie ist und einen alten völlig verrosteten Wagen in der Einfahrt parkt. Ein Oldtimer, nur leider nicht mehr fahrtüchtig. Deshalb beschließt Dwight: "Wir stellen ihn ins Wohnzimmer, da sind sowieso zu wenig Möbel, und dann wird es so sein, als ob wir mit einem Kunstwerk in unserem Wohnzimmer leben. Wir polieren ihn immer schön und setzen uns rein und unterhalten uns. Es ist sehr friedlich da drin, weißt du."
Frieden und Erlösung suchen auch die Frauen, die sich zu einer "Mutterzelle" vereinen, weil ihre mit viel Liebe erzogenen Kinder trotz aller Fürsorge zu Mördern geworden sind: "Wir können die Sünden unserer Kinder nicht wieder gutmachen. Wir haben das Desaster geboren und Geschichte gemacht", sagt eine der Mütter. "Nichts haben wir geklärt, und die Erde ist nicht mehr schön."
Prophetisch
Alle Erzählungen sind besonders, eine auch prophetisch: "Die letzte Generation" von 1990. Oft weht bei Williams ein apokalyptischer und zivilisationskritischer Wind, hier wächst er sich zum Sturm aus. Tommy ist neun, seine Mutter ist tot, sein Vater vergeht in Selbstmitleid, sein älterer Bruder interessiert sich nur für Mädchen und ist jede Nacht unterwegs. Tommy freundet sich mit der etwas älteren Audrey an, sie ist cool, ein bisschen verrückt und wie aus einer Gothic Novel entlaufen, schenkt dem Jungen ein Buch über Tiere, die schon kurz nach ihrer Entdeckung ausgerottet wurden und seitdem ausgestorben sind. Als Tommy sagt: "Ich weiß nicht, was ausgestorben heißt", hält Audrey ihm einen Vortrag: "Jetzt leben wir im einundzwanzigsten Jahrhundert, dem Jahrhundert der Zerstörung. Die Erde gibt es seit vier Komma sechs Milliarden Jahren, und es dauert vielleicht nur noch fünfzig Jahre, um sie auszulöschen. Wir sind die letzte Generation. Wir sollten nichts wissen und nichts wollen und nichts sein, aber gleichzeitig sollten wir alles wollen und alles wissen und alles sein."
Könnte nicht schaden, dass alle, die heute über die Aktionen der "Letzten Generation" den Kopf schütteln, diese Story von 1990 lesen: sie ist so aktuell wie nie zuvor. Es lohnt sich.
Frank Dietschreit, rbbKultur