Essay - Judith Schalansky: "Schwankende Kanarien"
Die Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky ist mit Büchern wie dem "Atlas der abgelegenen Inseln" international bekannt geworden und hat zahlreiche Preise erhalten. Jetzt gesellt sich ein neuer dazu: der "Wortmeldungen Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte 2023" für den Essay "Schwankende Kanarien". Darin nähert sich Schalansky künstlerisch der Angst vor dem Klimawandel.
Wer sich mit den Gefahren des Klimawandels bislang vor allem nüchtern naturwissenschaftlich beschäftigt hat, wird von Judith Schalanskys Essay ordentlich durchgeschüttelt: Jeder Satz bordet über vor sprachlichem Witz, vor ungewöhnlichen Vergleichen und dennoch treffenden Schlussfolgerungen, in Thomas-Mann-würdiger Länge:
"Bevor ein Kanarienvogel von der Stange fällt, fängt er an zu schwanken. Bevor ein System endgültig kippt, gibt es oft starke Amplituden: Populationen nehmen zu und ab, Messergebnisse werden uneindeutig und trüben das ohnehin diffuse Bild. Dann jedoch, lehren Modelle und Erfahrungen, können Entwicklungen nicht mehr aufgehalten werden und es tritt das ein, wofür jeder Writer’s Room die sehr bildliche Formulierung 'when shit hits the fan' bereithält, jener ultimative Punkt also, in dem die Scheiße auf den Ventilator trifft und eine Situation komplett außer Kontrolle gerät und eine buchstäblich unberechenbare Kette von Ereignissen nach sich zieht, die unwiderruflich, ja, irreparabel sind und die ich mir aus irgendeinem Grund wie den lawinenartigen Tortenschlacht-Showdown in einem Stummfilm vorstellte, in dem die im Gesicht eines Unschuldigen landende Sahnetorte eine Reihe von so unwahrscheinlichen wie folgerichtigen Kettenreaktionen entfesselt, ehe es mit dem verstörend friedlich wirkenden Bild der totalen Verwüstung erstarb."
Sinnbild ständiger Bedrohung
Der titelgebende schwankende Kanarienvogel gilt seit seinem Einsatz als Frühwarnsystem für Kohlenmonoxid in Bergwerken als Sinnbild für eine ständige Bedrohung. Er zieht sich wie ein leuchtendgelber Faden durch Schalanskys Essay, in dem sie nicht nur über die Angst vor einer Klima-Apokalypse sinniert, sondern auch über die Verbindung zum klassischen Theater, den Aufbau von Fernsehserien und die menschliche Sprache:
"Wie so oft überwintert Ausgemustertes im Paralleluniversum der Sprache. In ihr leben die Bergwerkskanarien fort, geistern als Unheil verkündende Miniaturkassandras durch Nachrichten, als handliche, gefiederte Orakel, denen es im Angesicht der Katastrophe die Stimme verschlägt und die an jenem prekären Punkt, der über Leben und Tod entscheidet, effektvoll von der Stange fallen."
Ausgezeichnet humorvolle Kunst
Judith Schalanskys Essay "Schwankende Kanarien" ist mit dem "Wortmeldungen Ulrike Crespo Literaturpreis" ausgezeichnet worden, da er die wichtigsten Kriterien für diesen Preis erfüllt: Es sollen "eindringliche, differenzierte, kritische literarische Texte zu aktuellen gesellschaftlichen Themen" geehrt werden, die gerade wegen ihrer Kürze auf aktuelle Geschehnisse schnell reagieren können. Und so finden sich dort unheimlich aktuell die hohen Gaspreise, die Naturkatastrophe in der Oder und der neueste bittere Bericht des Club of Rome. Dennoch schwebt Schalansky zeitlos über diesen Dingen, in dem sie jeden vorbeihuschenden Gedanken einfängt und daraus literarische, humorvolle Kunst macht:
"(…) Während Goethe seinen Werther zeitgleich beinahe vor Verlangen vergehen lässt, als das Schnäbelchen von Lottes Kanarienvogel erst ihren eigenen Mund liebkost und dann den seinen küsst: 'Die pickende Berührung war wie ein Hauch, eine Ahnung vollen Genusses.' Was mit dem vollen Genuss gemeint ist, legt nicht nur das bis ins heutige Deutsch existierende Verbum "vögeln" nahe, sondern auch die holländischen Genrebilder des 17. Jahrhunderts, auf denen der im Käfig gehaltene Kanarienvogel stets und durchschaubar auf nichts anderes verweist als auf den Zustand der Jungfräulichkeit, der naturgemäß prekär ist."
Klimawandel in schöner Sprache
Nur 41 Seiten umfasst dieser wirklich kurze Text, der auf wenig Raum eine umso größere Welt eröffnet: Eine Welt in der Natur- und Geisteswissenschaft mit Soziologie und Sprachwissenschaft verschmelzen. Dabei rast Schalansky atemlos mit scheinbar sprunghaften Gedanken zu einem ernüchternden Ende, das das Rasen abrupt stoppt und die Leserinnen und Leser zurück in die Realität befördert.
"Schwankende Kanarien" erzählt nichts Neues zum Klimawandel, aber er gibt der Angst vor einer nahenden Katastrophe eine neue künstlerische Dimension. Er kann – und sollte sogar – mehrmals gelesen werden, um die vielen hüpfenden Thesen zu verstehen, aber auch, um sich immer wieder an der Schönheit der Sprache Judith Schalanskys trotz der apokalyptischen Sorgen zu erfreuen.
Irène Bluche, rbbKultur