Roman - Shady Lewis: "Auf dem Nullmeridian"
"Auf dem Nullmeridian" so hat der britische Autor Shady Lewis seinen Roman genannt. Darin erzählt er die Geschichte eines Mannes, der als Migrant in London lebt und im sozialen Dienst arbeitet. Aber anstatt Menschen helfen zu können, verzweifelt er an der Bürokratie und Sinnlosigkeit seiner Aufgabe. Schonungslos und doch mit viel Leichtigkeit erzählt der Autor von den Folgen, die Rassismus und Eurozentrismus haben.
Der Nullmeridian ist die Linie, von der aus die Längengrade der Erde von Osten nach Westen gezählt werden. Festgelegt wurde er willkürlich - während einer Internationalen Meridiankonferenz im Jahr 1884: Die Sternwarte im Londoner Stadtteil Greenwich. Und so steht dieser Ort im Roman für zweierlei: Die Verblendung, den Eurozentrismus, die Willkür, die sich noch heute in rassistischen Strukturen widerspiegeln. Und der Ort hat eine dramaturgische Funktion. Zwei Figuren treffen sich dort, als sie auf dem Tiefpunkt der Erzählung sind:
"Weißt du, warum ich dich hier treffen wollte? Weil man hier einen Fuß in den Osten und einen in den Westen der Welt stellen kann. Mein einer Fuß steht östlich des Nullmeridians und der andere westlich davon. London bildet sich viel auf sich ein, und seine Mächtigen glaubten, sie seien der Mittelpunkt der Welt, deshalb haben sie die Welt und den Himmel hier geteilt. Überheblicher kann man nicht sein. Aber uns geht das nichts an, denn wie du weißt, stehen du und ich und Leute wie wir immer in der Mitte. Wir sind weder hier noch dort." (ZITAT, Auf dem Nullmeridian)
In Rückblicken offenbart sich die Gewalt
Ein Anruf ist es, der den Ich-Erzähler aus seinem Trott als Sozialarbeiter reißt. Ein alter Freund aus Kairo, seiner Heimat, bittet ihn, einen jungen Syrer zu bestatten, den er selbst kaum kennt. Ganz allein sei der nach seiner Flucht in London in seinem Zimmer verstorben und müssen nun unter die Erde gebracht werden. Der Ich-Erzähler kann dem Freund die Bitte nicht abschlagen und macht sich an seine Aufgabe. Es entwickelt sich eine Geschichte, die in Anekdoten und Rückblicken oft Schreckliches erzählt: von Tod, Rassismus und Gewalt.
Komisch und tragisch zugleich
Da verkohlt eine Frau in ihrem Zimmer, der junge Syrer stirbt mutterseelenallein und seine Familie darf ihn nicht einmal Bestatten, die Menschen, für die der Ich-Erzähler als Beamter zuständig ist, sind psychisch krank, drogenabhängig, die Schwächsten in der Gesellschaft…Doch Shady Lewis schafft es, so zu erzählen, dass die Komik in der Tragik sichtbar wird. Immer wieder geschieht das, wenn die Absurdität der Verwaltung offenbar wird. Wenn z.B. ein Mann, der HIV positiv ist, sich über das Absinken seiner weißen Blutkörperchen freut, weil er jetzt als Aids-Kranker gilt – und somit Anspruch auf eine Sozialwohnung hat.
Ein Roman von Leichtigkeit und großer Wucht
Die Biografie des Autors hat gewisse Parallelen zu seinem Ich-Erzähler: Er ist selbst von Kairo nach London gezogen, hat lange im sozialen Dienst gearbeitet und kennt dessen Bedingungen von innen. Später studierte Shady Lewis Psychologie. Er hätte diese Geschichte sicher auch mit viel Gewicht erzählen können. Doch die Leichtigkeit, die anekdotische Sprunghaftigkeit gibt diesem Text eine umso größere Wucht.
Julia Riedhammer, rbbKultur