Essays und Reden - Herta Müller: "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald"
Am 17. August wird die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller 70 Jahre alt. Geboren wurde sie im deutschsprachigen Teil Rumäniens, seit 1987 lebt sie in Deutschland, mittlerweile seit vielen Jahren in Berlin Friedenau. In ihren Texten hat sie immer wieder über Diktaturen geschrieben und sich mit den Themen Heimat und Fremde, Flucht und Exil auseinandergesetzt. Nun ist ein neuer Essayband von ihr erschienen: "Eine Fliege kommt durch einen halben Wald", eine Sammlung mit Reden, Essays und Prosa aus den letzten Jahren.
"Würde ist auch, wenn man mit ihr voll in die Pfütze springt". Das ist einer der vielen starken Sätze, die einen in diesem neuen Band von Herta Müller immer wieder anspringen - dichte, symbolstarke, aufgeladene Sätze, die einen sofort berühren.
Gedanken über die großen, politischen und humanistischen Themen
"Unsichtbares Gepäck" heißt der erste Text, ein Beitrag zu dem von Georg M. Oswald herausgegebenen Sammelband über "Das Grundgesetz. Ein literarischer Kommentar". Herta Müller macht sich Gedanken über die Würde. Was ist Würde, wie kann man sie bewahren, wenn man in einer Diktatur aufwächst wie sie?
Als junge Frau hat sie in einer Maschinenfabrik gearbeitet, die Securitate wollte sie als Spitzel anwerben. Sie jedoch hat sich geweigert und wurde mit schweren Sanktionen gestraft: Sie zahlte mit Einsamkeit. Und sie musste aus ihrem Büro ausziehen. Doch sie legte ihr Taschentuch im Treppenhaus aus, setzte sich darauf und arbeitete dort weiter.
Sich die Freiheit zu erlauben, kein Spitzel zu werden – das hat zwar eine Würde gerettet, "die in diesem Land nicht vorgesehen war". Aber dieser Schritt hat die Unterdrückung sogar verstärkt, weil sie ab diesem Zeitpunkt observiert und bedroht wurde, Jobs verlor und regelmäßig zu Verhören musste. Ihr fällt das Sprichwort "Am Rand der Pfütze springt jede Katze anders" ein: In Rumänien jedoch, zu dieser Zeit, schreibt sie, sprangen alle Katzen gleich. Und wer nicht mitsprang wie sie, wusste vorher schon, dass er oder sie mitten in der Pfütze landen wird. Eine Chance, nicht unterdrückt zu werden, gab es nicht.
Gegenstände aus dem Herta Müller-Kosmos tauchen immer wieder auf
"Eine Fliege kommt durch einen halben Wald" versammelt neue Reden, Essays und Prosa aus den letzten Jahren. Mit Themen, die man aus Herta Müllers Werk und Wortmeldungen kennt: Würde, Heimat und Fremde, Flucht und Exil. Die großen, politischen und humanistischen Themen. Immer wieder spielen Gegenstände eine Rolle, die man aus dem Herta Müller-Kosmos kennt, aus "Herztier" oder "Der Fuchs war damals schon der Jäger" oder aus dem großen Roman "Die Atemschaukel": Das Taschentuch, das sie stets mit sich trägt. Das Fuchsfell in ihrer Wohnung, dem die Securitate nacheinander die Beine und Vorderläufe abschnitt, um sie einzuschüchtern. Die Zahnbürste, die sie immer in ihrer Tasche hat, weil sie nicht weiß, wie lang die Verhöre dauern.
Sie erzählt auch ihre eigene Geschichte, vom langen Arm der Securitate, die sie bis ins Exil hinein bedrohte. Vom Ankommen in Deutschland, in dem sie von den Behörden einige Steine in den Weg gelegt bekam: "Für den Verfassungsschutz war ich verfolgt und gefährdet, für den BND und die Einbürgerungsbehörde jedoch weiterhin eine Agentin". Und immer wieder kritisiert sie nachdrücklich, dass es bis heute in Deutschland keinen großen Ort der Erinnerung an das Exil gibt, einen Ort für die schon 1933 vertriebenen Deutschen.
Schon lange setzt sich Herta Müller für ein "Museum des Exils" ein - mittlerweile ist sie Schirmherrin des geplanten Exilmuseums am Anhalter Bahnhof in Berlin. Eröffnet werden soll der Neubau der dänischen Architektin Dorte Mandrup, der die Ruine des Bahnhofs umrahmen soll, voraussichtlich 2026.
Sprache als Zuflucht
In "Das chinesische Glasauge", einem Prosatext von 2012 beschreibt sie, wie die Sprache für sie bedeutsam wurde. Wie sie, bereits beschattet und ständig verhört, in der Sprache eine Zuflucht fand, eine Unabhängigkeit im Geiste, ihre Selbstständigkeit und Autonomie. Sie ging, so schreibt sie, "mit der Sprache im Kopf an den äußersten Rand der Dinge". Auch wenn sie durchsucht und verhaftet wurde, "in die Konstellationen der Dinge und Sprache in meinem Kopf reichte niemand hinein."
Herta Müller veröffentlicht seit "Atemschaukel" und dem Literaturnobelpreis 2009 bisher nur kürzere Texte. Doch die dichte, schwerwiegende, elegante und glasklare Intensität ihres Schreibens ist auch in diesen Essays und Reden enthalten.
Anne-Dore Krohn, rbbKultur