Roman - Nicole Flattery: "Nichts Besonderes"
Aus Irland kommen zurzeit spannende neue literarische Stimmen. Gerade erst hat die Autorin Sally Rooney für Aufsehen gesorgt, mit Büchern wie "Gespräche mit Freunden" oder "Normal People", das direkt erfolgreich als Serie verfilmt wurde. Jetzt folgt ihr eine weitere junge Schriftstellerin aus ihrer Generation: Nicole Flattery, Jahrgang 1990. Vor drei Jahren veröffentlichte der Hanser Verlag ihrden Erzählband "Zeig Ihnen, wie man Spaß hat", jetzt erscheint ihr Debütroman "Nichts Besonderes".
Im Jahr 1966 fährt ein junges Mädchen in New York Rolltreppen auf und ab, anstatt zur Schule zu gehen:
"Die Rolltreppen bei Macy’s am Harold Square waren hölzern und eng und vermittelten einem ständig das Gefühl, dass die Katastrophe kurz bevorstand. Im Lauf weniger Wochen im Oktober wurden sie zu meinen Lieblingen. Ich mochte das Stufenweise dieser Fortbewegungsart, die Gesprächsfetzen, die ich auf meinem knarzenden Weg nach oben mitbekam. So fühlte ich mich weniger alleine. Etliche Wochen nachdem ich damit angefangen hatte und einige Zeit nachdem mir der Grund, aus dem ich es machte, zu großen Teilen aufgegangen war, traf ich einen Mann, der in die Gegenrichtung abwärtsfuhr."
Die Begegnung mit diesem Mann führt das Mädchen Mae über ungute und demütigende Umwege zu einem Ort, der ihr ganzes Leben prägen wird: die Factory von Andy Warhol.
Ein Ort der Freiheit und Anarchie, der Kunst und des Exzesses, der Avantgarde und des Untergangs. Ein Ort, der innerhalb weniger Jahre legendär werden sollte. Ein Ort, der Mae "das Leben geschenkt" hat, wie sie sagt.
Warhol nur als Hintergrundbild
Doch ist Mae nicht eine der Stars, die in der Aura Warhols Aufsehen erregen – sie gehört zu denen im Schatten, ohne Namen, ohne Gesicht, an die sich niemand erinnern wird. In einer dunklen Kammer gehört sie zu dem Tross junger Frauen, die die zahllosen Tonbänder mit den intimen Gesprächen Warhols mit seinen drogensüchtigen, labilen, künstlerisch ambitionierten Freunden und Verehrern abtippt:
"Ich war ganz high von all dem, was ich wusste: Stündlich sprachen mir Menschen ihre Beichte direkt ins Ohr. Ich hielt diese Menschen wirklich für etwas Besonderes, und das Abhören der Bänder brachte mich von meiner Überzeugung nicht ab. Sie standen jenseits von Recht und Ordnung, jenseits aller Alltagshektik, jenseits jeder Verletzung."
Aus diesen Tonbändern wird das Buch "a – Ein Roman" entstehen. Das Buch, die Factory, die Stars wie Edie Sedgwick oder Ondine, die Mae so beeindrucken - sie hat es alle wirklich gegeben. Mae selbst nicht. Doch die irische Schriftstellern Nicole Flattery lässt die einsame Stenotypistin Mae viel lebendiger und realer erscheinen als Warhol und all seine Jüngerinnen und Jünger zusammen. Sie sind nur die Kulisse, vor der wir in das Leben dieser sperrigen Frau eintauchen dürfen und sie so schnell nicht vergessen werden.
Eine literarische Figur, die ihresgleichen sucht
Mit ihrem ersten Roman hat Flattery eine literarische Figur erschaffen, die ihresgleichen sucht. Wir lernen sie sowohl als Kind kennen, das in Armut aufwächst und die Liebe seiner alkoholabhängigen Mutter nie wirklich bekommt, als auch als alte Frau, die die Welt in den 2010er Jahren nur noch mit Erstaunen beobachten kann. Doch dies alles nie sentimental, sondern nüchtern, abgeklärt und zugleich mit einem trockenen und selbstkritischen Humor versehen:
"Die jungen Leute gaben sich komplett ihrem eigenen Leben hin, lauschten nur auf die winzigen Verschiebungen in der eigenen Persönlichkeit. Ich besah mir die Studierenden in den Cafés, wie sie vor ihren Laptops hockten, stirnrunzelnd auf die Tasten einklopften. Es war großartig, sie arbeiten zu sehen. Ich hatte nicht studiert. Hatte auch keinen Highschool-Abschluss. Ich überlegte, einen Erstickungsanfall vorzutäuschen, damit mir jemand von ihnen zu Hilfe käme, aber ich wusste, das wäre zu viel verlangt. Ich hatte nicht das Recht, Ansprüche an sie zu stellen. Sie wirkten so beschäftigt."
Ein herrlich abgeklärter Roman
Doch die junge Mae stellt Ende der 60er Jahre noch Ansprüche und kann nicht akzeptieren, dass sie keine Spuren in der Welt hinterlassen soll. Die unauffällige, ignorierte Frau ergreift unerkannt die Macht und manipuliert Andy Warhols Werk, Tag für Tag:
"Ich ließ mehr und mehr von mir in das Buch einfließen – Rechtschreibfehler, Pausen, wo keine waren, meine persönlichen Hervorhebungen, meine persönlichen Scherzchen. Ich musste ihm irgendeinen Stempel aufdrücken. Man konnte nicht so viel Zeit mit solchen Egos verbringen, ohne selbst eins zu entwickeln. Das war mein ganz eigener Auftritt."
Nicole Flattery hat mit ihrem Kurzgeschichtenband "Zeig Ihnen, wie man Spaß hat" schon mit 27 Jahren in Irland und international für Aufsehen gesorgt, mit dem Porträt schräger und komplexer Frauen. Ihr Debütroman etabliert sie nun als unheimlich interessante junge Schriftstellerin, die abseits der so beliebten Nabelschau-Themen nach dem Wesentlichen in ihren Figuren sucht, nach ihren Sehnsüchten und Unzulänglichkeiten. Das alles völlig unsentimental, überrumpelnd ehrlich und herrlich abgeklärt, wie in einem der letzten Sätze des Romans:
"Was meine Rettung hätte sein sollen, hatte mich kein bisschen gerettet. Aber so etwas passierte ja tagtäglich."
Irène Bluche, rbbKultur