Sherko Fatah: Der große Wunsch © Luchterhand
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Roman - Sherko Fatah: "Der große Wunsch"

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Die Konfrontation zwischen Kulturen ist ein Thema, das den Schriftsteller Sherko Fatah nicht loslässt. Auch in seinem neuen Roman "Der große Wunsch", der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht, geht es um das Aufeinandertreffen von europäischer und arabischer Welt. Murads Tochter bricht nach Syrien auf, um dort einen Glaubenskrieger zu heiraten. Um sie wiederzufinden, begibt sich ihr Vater auf eine gefährliche Reise.

Der Name Murad stammt aus dem Arabischen und bedeutet "der große Wunsch". So heißt auch der neue, große Roman von Sherko Fatah. Murad ist darin nicht nur der Name der Hauptfigur, sondern auch das Computer-Passwort von dessen Tochter Naima.

Von Berlin in den Glaubenskrieg nach Syrien

Naima ist verschwunden. Sie ging mit einem Glaubenskrieger nach Syrien, der dort mit der Waffe für den "Islamischen Staat" kämpfen will. Für Murad, dessen Eltern einst aus dem kurdischen Irak nach Berlin ausgewandert sind, und seine Exfrau Dorothee in Berlin ist das eine Katastrophe. Murad fragt sich, welche Verantwortung er selbst für den radikalen Schritt der Tochter hat, die zuvor nie durch religiöse Neigungen aufgefallen war, und worin ihre Sehnsucht, ihr "großer Wunsch" besteht.

Zu Beginn des Romans ist Murad bereits im türkisch-syrischen Grenzgebiet eingetroffen und hat Kontakt zu dubiosen Mittelsmännern aufgenommen, die ihn auf die Spur der Tochter bringen sollen. Viel mehr kann er nicht tun, und so besteht der Roman zu großen Teilen aus Warten. Eindrucksvoll schildert Sherko Fatah die Weite der kargen Berglandschaft, die abweisende, schwer zugängliche Gegend, in der – und das lernt Murad bald – physische Grenzen keine Rolle spielen. Staatsgrenzen sind hier etwas Abstraktes, eine "europäische Idee", denn welchen Sinn hätte es, diese Leere aufzuteilen oder gar erobern zu wollen?

Fremd- und Zugehörigkeiten

In weiten Teilen handelt "Der große Wunsch" von der Konfrontation seines Helden mit dem Fremden. Qua Herkunft gehört Murad als Intellektueller aus Deutschland selbst hierher und von Ferne zu diesen Menschen, die so ganz anders sind als er selbst und die auf eine Weise miteinander und mit Informationen verbunden sind, die er nicht versteht. Fremdheit und Zugehörigkeit werden zu Kategorien, die sich gegenseitig in Frage stellen. Auch wenn Murad von den Einheimischen gelegentlich als Tourist bezeichnet wird, gelingt es Sherko Fatah, das Fremde nie touristisch oder bloß exotisch zu betrachten. Er lässt es mit all den Figuren, die Murad umgeben, aus sich selbst heraus lebendig werden. Dazu gehören der misstrauische Wirt und seine fürsorgliche Frau, der junge Fahrer, der ihm Land und Leute näherbringt, der "Chef" in einer Bar, der alles über ihn zu wissen scheint oder eine alte Frau aus einem syrischen Flüchtlingslager, die immerzu eine mit Asche gefüllte Tasche mit sich herumträgt.

Auf der Ebene des Wartens und Da-seins geschieht so gut wie nichts, jedenfalls nichts, was Murad seinem Ziel, die Tochter zu retten, näherbringen würde. Stattdessen lernt er vieles über die Lage der Kurden, besucht ein kurdisches Militärlager mit einem markigen Kommandanten oder gerät in eine Höhle voller menschlicher Skelette, Zeugnisse des Genozids an den Armeniern. Türen in die Geschichte öffnen sich, doch die reale Welt um ihn herum bleibt stumm und undurchdringlich. Das gibt Murad Raum und Zeit, sich mit seiner Geschichte, seinen Erinnerungen und dem Verhältnis zu seiner Tochter auseinanderzusetzen.

Zwei Wirklichkeiten

Alles, was geschieht, geschieht in einer anderen, der digitalen Wirklichkeit. Da kommen Mails von der Exfrau in Berlin, die ihm Vorwürfe macht, vor allem aber erhält er von seinen Mittelsmännern Fotos und Audiofiles, die angeblich von seiner Tochter stammen. Doch wer ist die verschleierte Frau, von der nur die Augen zu sehen sind, und die in einem Onlinetagebuch fürchterliche Dinge aus dem Islamischen Staat erzählt? Murad kann ihre Stimme nicht wirklich mit der seiner Tochter in Einklang bringen.

Damit zieht Sherko Fatah neben all den anderen Grenzen, die in diesem grandiosen Roman eine Rolle spielen – vor die Grenze zwischen dem sogenannten "Westen" und dieser archaischen, unzugänglichen Grenzregion – noch eine andere Grenze ein: die zwischen der handfesten Wirklichkeit da draußen, in der Murad sich immer wieder verirrt, und der digitalen Welt, deren Wahrheits- und Wirklichkeitsstatus von vorn herein problematisch ist.

Ein lang nachklingendes Leseabenteuer

Auf diesem doppelten Boden – oder vielmehr Abgrund – verhandelt er Fragen nach Verantwortung, Zugehörigkeit, Sinnsuche, Fragen, die das Leben ausmachen, die aber hier, in der Leere der Felslandschaft und in der Radikalität der mörderischen Gotteskrieger eine ganz andere Intensität erhalten. All das bringt Sherko Fatah erzählerisch zur Sprache. Alles verwandelt sich in Bild, in Stimmung, in Erleben, in Schönheit und Gefahr. Alles Gedachte entsteht aus dem Augenblick heraus. So wird "Der große Wunsch" zu einem höchst spannenden, schillernden und lang nachklingenden Leseabenteuer.

Jörg Magenau, rbbKultur

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