Roman - Suzette Mayr: "Der Schlafwagendiener"
Im Nachtzug zu reisen – das klingt romantisch. Vor 100 Jahren war es das höchstens für die gut betuchten Passagiere. Für die Bediensteten an Board der Bahn war es dagegen harte Arbeit. "Der Schlafwagendiener" von Suzette Mayr erzählt davon.
Schon bevor der Trans Canada Express sich im Jahr 1929 auf seine fast 4.000 Kilometer lange Reise von Montreal nach Vancouver macht, hat der Schlafwagendiener Baxter alle Hände voll zu tun. Laken, Kissenhüllen, Handtücher zählen, einsortieren, falten, Kojen herunterlassen, Betten beziehen, Papiertücher, Seife, Streichhölzer im Waschraum bereit legen, Müll aus den Ritzen fischen, die Goldknöpfe an seiner Uniform polieren. Als dann die Passagiere den holzvertäfelten, eleganten Zug besteigen, ist Baxter stets zu Diensten.
Zitat:
"Diener, du musst mich rechtzeitig wecken!". "Diener, hol mir ein neues Kissen. Aus dem hier stechen die Federn raus." "Oh Diener, sind wir auch pünktlich?"
Klick, denkt Baxter. Er ist ein klickender Roboter, erschaffen, um zu dienen. Er ist ein surrender Musikautomat, zusammengeschraubt, um andere zu bespaßen.
Diskriminierung und Schikane
Man begleitet Baxter nun durch seinen langen Dienst, einen jungen Mann, schwarz so wie alle Schlafwagendiener an Board und die meisten anderen Bediensteten, denn die damalige Gesellschaft ist noch zutiefst rassistisch geprägt. Baxter und seine Kollegen sind abhängig vom Trinkgeld und Wohlwollen der Passagiere, die allesamt weiß sind, reich, wohlhabend oder zumindest mittelgut situiert. Für Beschwerden kassieren die Diener Strafpunkte, ab einer bestimmten Anzahl ist der Job weg. Ständig also schwebt dieses Damoklesschwert über Baxter und seinen Kollegen, so wie sie auch permanent Diskriminierungen und Schikanen ausgesetzt sind.
Schlaflosigkeit im Schlafwagen
Der "Bettenpalast auf Rädern" dampft und rattert mit einer ganzen Armee an Köchen, Kellnern und Schlafwagendienern durch die Prärie, an Schluchten, Seen, Weizenfeldern und den Rocky Mountains vorbei. Als Leser:in mäandert man mit Baxter in einem fließenden Rhythmus durch die Abteile, Waggons, den Salon und die Kojen. Man hat wirklich das Gefühl unterwegs zu sein.
Drei Tage und vier Nächte soll die Reise dauern. Doch dann verhindert eine Schlammlawine auf den Gleisen mitten in den Bergen die Weiterfahrt und Baxters Schicht verlängert sich um Tage. Während die Atmosphäre unter den Fahrgästen immer angespannter wird, kämpfen Baxter und seine Kollegen noch mehr mit ihrer bleiernen Müdigkeit als sonst. Arbeitsschutz und feste Ruhezeiten gab es damals nicht.
Zitat:
"Die Schläfrigkeit trieft an Baxter hinunter, sammelt sich in einer Pfütze, bildet Treibsand, in dem seine Füße immer wieder steckenbleiben, lässt ihn Flecken sehen, wo keine sind."
Baxter hat Halluzinationen und sieht Dinge, die nicht da sind. Er fällt in Sekundenschlaf, ohne es zu merken und weiß nicht mehr, ob er Dinge wirklich gesagt hat. Dazu hat er eine Vorliebe für Science Fiction Literatur, und plötzlich mischen sich metallene Käfer und Marsianer in seine sowieso schon verzerrte Wahrnehmung. Das löst auch beim Lesen etwas aus: Das Dahinfließen wird immer mehr zu einem Wanken und Wackeln. Suzette Mayr baut eine dichte Atmosphäre.
Illustres Wimmelbild
Suzette Mayr entwirft in "Der Schlafwagendiener" ein Wimmelbild aus einer illustren Passagier- und Bediensteten-Schar. Ein berühmter Schauspieler, der inkognito reist, eine junge Frau, die als Medium Seancen abhält, windige Geschäftsmänner, eine Schriftstellerin und ihre Tochter, die von ihrem Verlobten sitzen gelassen wird, eine ältere Frau und ihre kleine Enkelin, die gerade ihre Mutter verloren hat. All diese Geschichten, die jede für sich genug Stoff für mehr bieten würden, deutet Suzette Mayr an, ohne sie auszuerzählen. Die Einblicke reichen nur so weit, wie auch der Schlafwagendiener sie erhält.
Queerness, Sex und Schuldgefühle
Dazu kommt die persönliche Geschichte von Baxter, der jeden Cent seines Gehalts und Trinkgelds für ein Studium der Zahnmedizin spart. Er ist homosexuell – was ihn 1929 noch ins Gefängnis bringen kann. Als Baxter eine pornografische Postkarte findet, die zwei Männer beim Sex zeigt, will er sie eigentlich sofort entsorgen, steckt sie aber stattdessen ein und schwankt nun ständig zwischen Erregung und der Angst, aufzufliegen. Das ist neben der Schlammlawine und verbotenem Sex ein weiterer Spannungsbogen, den Suzette Mayr einzieht. Ebenso zieht sich Schuldgefühle und die bange Frage, was aus Baxters ehemaligem Ausbilder und erstem Liebhaber geworden ist, durch den Roman.
Die perfekte Reiselektüre
"Der Schlafwagendiener" ist ein gelungener historischer Roman, der ganz nebenbei und elegant, quasi während der Fahrt, von gesellschaftlichen Strukturen, von Queerness und Schwarzsein, von Rassismus und mangelndem Arbeitsschutz erzählt. Es ist die perfekte Reiselektüre - idealerweise, aber nicht nur, für lange Bahnfahrten.
Nadine Kreuzahler, rbbKultur