Tobias Rüther: Herrndorf. Eine Biographie © Rowohlt Berlin
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10. Todestag des Schriftstellers Wolfgang Herrndorf - Tobias Rüther: "Herrndorf. Eine Biographie"

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Eine Biographie über Wolfgang Herrndorf zu schreiben, erfordert Mut. Schließlich hat der Autor von "Tschick" testamentarisch verfügt, "niemals Germanisten" ranzulassen und Journalisten "mit der Waffe in der Hand zu verjagen". Der Journalist Tobias Rüther von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung hat es dennoch gewagt.

Zehn Jahre nach Herrndorfs Tod hat er die erste Biographie vorgelegt. Sie ist aus einer Position der Verehrung, ja Verklärung geschrieben, bis hin zum Schlusssatz, der Herrndorf kurzerhand zum "größten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation" erklärt. Doch trotz solcher in einer Biographie fast unvermeidlichen Überhöhungen ist Rüthers sorgfältig recherchiertes und genau gearbeitetes Porträt grandios gelungen.

Verehrung und Verklärung

Das liegt weniger daran, dass Rüther überraschende Neuigkeiten ausgegraben hätte. Allzu aufregend war Herrndorfs Leben lange Zeit nicht. Eher könnte man ihn von der Kindheit in Garstedt übers Nürnberger Kunststudium und die Arbeit fürs Satiremagazin "Titanic" bis zur Berliner Online-Existenz im Forum der "Höflichen Paparazzi" als Prototyp des bundesdeutschen Einzelkindes betrachten: prägenial, zeichnerisch hochtalentiert, ziemlich narzisstisch und ein wenig misanthropisch. So richtete er sich dauerhaft am unteren Existenzminimum und in einer ewigen Adoleszenz ein, wo sich Überheblichkeit mit einer nicht immer sympathischen Massenverachtung verbindet.

Nein, sympathisch war Herrndorf in seiner schroffen, hart aburteilenden Art nicht unbedingt. Das ist der überraschende Befund aus Rüthers von grundsätzlichem Wohlwollen getragener Biographie.

Romane wie "Tschick" wurden in manischer Schreibarbeit fertiggestellt

Das änderte sich erst mit der Diagnose eines nicht heilbaren Hirntumors im Frühjahr 2010, auf die Herrndorf mit einem radikalen Wechsel seines Lebensstils antwortete. Seine Frist, die er im statistischen Mittel auf 17 Monate festlegte (aus denen dann etwa dreieinhalb Jahre wurden), machte ihn zum Frühaufsteher und zu einem manischen Arbeiter, der jeden seiner Tage fürs Schreiben nutzen wollte. An "Tschick" und "Sand" hatte er schon jahrelang gearbeitet, doch jetzt machte er ernst und stellte "Tschick" in wenigen Monaten, den düsteren, nihilistischen Agenten-Psycho-Thriller "Sand" im folgenden Jahr fertig, geschrieben gewissermaßen mit der Waffe in der Hand.

Herrndorf hatte seine "Exit-Strategie": Er wollte den Zeitpunkt des Todes selbst bestimmen, bevor der Tumor ihn vollkommen lahmlegen würde. Rüther schildert, wie er in der allerletzten Zeit, als er noch mühsam an seinem Blog "Arbeit und Struktur" arbeitete, die Pistole neben sich liegen hatte, mit der er sich dann am 26. August 2013 am Berliner Hohenzollernkanal erschoss.

Eine beschleunigende Krankengeschichte, die sich nur atemlos lesen lässt

All das ist in Grundzügen bekannt. Rüther erzählt jedoch so, dass die sich immer mehr beschleunigende Krankengeschichte in ihrer Dynamik sich nur atemlos lesen lässt. Das Leben selbst wird zum Thriller, auch wenn das Ende bekannt ist. Denn aufregend ist ja etwas ganz anderes: dass da einer sich bis zur Stunde seines Todes selbst entwirft und bestimmt und in der Arbeit die Struktur findet, die ihm den nötigen Halt gibt. Nicht umsonst heißt Herrndorfs Online-Tagebuch der letzten Jahre "Arbeit und Struktur".

Herrndorf sah in der Struktur des Gehirns die Ursache aller Dinge, zugleich jedoch das Universum "als Fortsetzung unseres Sinnensystems". Seine Grundprinzipien sind darin begründet: Sinnlichkeit, Primat der Wahrnehmung (nicht die Dinge sind wichtig, sondern die Art und Weise, wie wir sie sehen), aber auch ein Narzissmus, für den das eigene Hirn den Mittelpunkt des Universums darstellt.

Seltsamer Widerspruch

Rüthers Biographie bezieht ihre Spannung aus einem seltsamen Widerspruch. Als Biograph tut er genau das, was Herrndorf als Maler unternahm, der die Gegenwartskunst verachtete und den altmeisterlichen Stil schätzte. Er liebte vor allem Vermeer und imitierte ihn, trivialisierte die Imitationen aber durch Gegenwärtiges, wenn er etwa Vermeers Briefleserin durch eine Helmut Kohl-Figur ersetzte. Das Satirische ergab sich aus der Diskrepanz von Form und Inhalt oder aus der handwerklichen Sorgfalt, mit der die ironische Brechung ausgeführt wurde. Das gilt ganz ähnlich für Rüthers Biographie, die per se ein eher altmeisterliches Genre ist und dazu verführt, kapitelweise Bedeutung in ein Leben hineinzupumpen. Nur geht es hier nicht um Goethe oder Thomas Mann, um Größe und Bedeutung, sondern eben um Herrndorf, den ewigen Jüngling, der gern Fußball spielte und Rollschuh fuhr und nachts viel trank und so weiter, so dass hier eben das Durchschnittliche, Unbedeutende eine allersorgfältigste Darstellung erfährt.

Rüther hat wirklich mit allen geredet, die Herrndorf kannten und etwas über ihn zu sagen hatten.

Spielregeln führte Herrndorf ad absurdum

Herrndorf praktizierte dieses Verfahren bei sich selbst, wenn er sich ikonographisch in Christus-Pose malte, sich aber statt der Bibel eine Bohrmaschine in die Hand gab. Zusammen mit seinen Kolleginnen und Kollegen von der "Zentralen Intelligenz Agentur" und den "Höflichen Paparazzi" arbeitete er stets daran, Bedeutung zu unterlaufen und zu zersetzen. Das geschah durch Sarkasmus und Ironie, mehr noch aber dadurch, herrschende Spielregeln zu durchschauen und ad absurdum zu führen. Musterbeispiel dafür ist der als "Ingeborg Bachmeier" veralberte Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, bei dem Herrndorf 2004 den Publikumspreis gewann, den gewinnt, wer die meisten Onlinestimmen erhält – also wer am besten in diversen Foren organisiert ist.

Nach Herrndorf gewannen die "Paparazzi" Kathrin Passig 2006 und Tex Rubinowitz 2014 gar den Hauptpreis und demonstrierten damit, wie sich Texte generieren lassen, die für die Jury unwiderstehlich sind.

Ein Bild mit Ecken und Kanten

Eine Biographie über sich hätte Herrndorf wohl abgelehnt und lächerlich gemacht. Er gab noch nicht mal Interviews. Insgeheim hätte er sich aber vielleicht gefreut. Das Bild, das Tobias Rüther von ihm zeichnet, hat genug Ecken und Kanten, dass er vielleicht sogar damit leben könnte. Schließlich wusste er – und auch das macht Rüther deutlich – um die gewaltige Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz gegenüber dem Abgrund des Todes, wusste aber auch, wie ihr zu trotzen ist: durch Kunst, durch Arbeit, durch Struktur. Rüther nennt das Herrndorfs "sentimentale Liebe für den künstlerischen Reichtum, den diese sinnlose menschliche Existenz seit ungefähr Herodot hervorbringt".

Schon allein wegen solch unsentimentaler Sätze sollte man diese Biographie unbedingt lesen.

Jörg Magenau, rbbKultur

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