Roman - Angelika Klüssendorf: "Risse"
Angela Klüssendorf ist vor allem mit der Romantrilogie um "Das Mädchen" bekannt geworden. In drei autofiktionalen Bänden erzählte sie darin von einer wahrhaft schrecklichen Kindheit in der DDR, vom Erwachsenwerden, von der Übersiedlung in den Westen und von der Bedeutung des Schreibens. Jetzt hat es ihr neuer Band "Risse" auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis geschafft, der in zehn Episoden noch einmal in die Kindheit des Mädchens eintaucht.
2004, vor knapp 20 Jahren, erschien der kleine Erzählungsband "Aus allen Himmeln" von Angelika Klüssendorf bei S. Fischer. Damals war noch nicht ganz klar, wie stark autobiografisch diese zehn Geschichten waren, traumatische Schauerszenen einer ostdeutschen Kindheit der späten 60er, frühen 70er Jahre. Seit Klüssendorfs autobiografisch grundierter Romantrilogie um das Mädchen April weiß man um ihren Werdegang, der aus der Abhängigkeit von einer alkoholkranken, sadistischen Mutter über Kinderheim- und Gefängnisaufenthalte, die Übersiedlung in den Westen 1985 schließlich zu den ersten Buchpublikationen seit 1990 führte.
Seltsame Metamorphose von Erzählungen zum Roman
"Aus allen Himmeln" war in seiner kargen, unsentimentalen Sprache, die das erlebte Grauen noch plastischer werden ließ, ein eindrucksvolles Werk. Da ist es mehr als legitim, wenn der Piper Verlag nun eine Neuauflage des inzwischen vergriffenen Buches herausbringt. Allerdings hat es eine seltsame Metamorphose durchlaufen: Es hat mit "Risse" nicht nur einen neuen Titel bekommen, sondern der wohl besseren Verkaufbarkeit halber auch noch das Genre gewechselt. Aus den zehn Erzählungen ist nun ein Roman geworden. Jedenfalls behauptet das der Verlag, der "Roman" zwar nicht aufs Cover, aber doch aufs Vorsatzblatt geschrieben hat.
Die Wirklichkeit steht der Literatur in Sachen Drastik ins Klüssendorfs Texten kaum nach
Trotzdem sind es immer noch dieselben Geschichten. Da ist der Vater, der sich jede Ostern auf zeremonielle Weise umbringen will und sich nicht scheut, die Tochter dabei mitzunehmen. Da ist die Mutter, die Weihnachten vergisst, weil sie betrunken ist und ihre zwei kleinen Töchter vor der Haustür in der Kälte warten lässt. In einer anderen Geschichte schickt sie ihre Tochter mit einem Einkaufszettel zum Klauen. Sie erträgt es aber nicht, wenn ihr 50 Pfennig aus dem Geldbeutel genommen werden. Dafür macht sie die kleine Schwester verantwortlich und traktiert sie zur Strafe in der Nacht mir spitzen Nadeln, gehüllt in ein Gespensterkostüm. Da ist der sexuell übergriffige Polizist, und da sind auch wieder die Ausbruchsversuche des Mädchens aus dem Kinderheim.
Neu an der Neuauflage sind lediglich die kursiv gesetzten Zwischentexte, in denen Angelika Klüssendorf auf den autobiografischen Gehalt hinweist, aber auch die Differenzen zwischen der literarischen Verarbeitung und der Wirklichkeit aufzeigt. So beginnt der Band mit der Mitteilung, dass die Mutter, der Angelika Klüssendorf so oft den Tod gewünscht hatte, tatsächlich gestorben ist. Beiläufig erfährt man da, dass die Mutter, als Klüssendorf 18 Jahre alt war, mit ihrem ersten Freund geschlafen hat und sie die beiden im Bett ertappte. Die Wirklichkeit steht also der Literatur in Sachen Drastik kaum nach.
Der Leser wird unfreiwillig zum Therapeuten
Die kurzen, kommentierenden Texte sind so etwas wie verbindende Scharniere zwischen den einzelnen Erzählungen. Diese nun im Rückblick hinzugefügten Einordnungen rechtfertigen aber noch lange nicht die Mutation zum "Roman". Vielmehr machen sie noch deutlicher, was auch die Geschichten selbst nicht verheimlichen können: dass es sich hier um eine Art therapeutischen Schreibens handelt, um einen Versuch, das Erlebte zu bewältigen und von sich wegzurücken, indem es in Text verwandelt wird. Das hinterlässt bei aller Bewunderung für die Kunstfertigkeit Klüssendorfs ein schales Gefühl. Wenn der eigentliche Zweck des Schreibens die eigene Trauma-Bearbeitung ist, wird man als Leser unfreiwillig in die Rolle des Therapeuten verwiesen, der sich das alles anhören muss, um zur Heilung beizutragen.
Schreckliche Kindheiten gibt es, das ist bekannt. Verlassenheit und Alkoholikereltern gibt es überall und nicht nur, wie in diesem Fall, in der DDR. Die Allgemeinheit der Texte ist so groß wie ihr Erkenntniswert gering. Dass der Band, der in der Substanz nicht neu und noch viel weniger ein Roman ist, auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht, kann allerdings nur ein Versehen der Jury gewesen sein. Schließlich wird da doch der beste Roman des Jahres gesucht. Der sollte weder aus Erzählungen bestehen, noch aus dem Jahr 2004 stammen.
Jörg Magenau, rbbKultur