Harry Lehmann: Musik und Wirklichkeit © Schott Music
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Modelle der Musikphilosophie - Harry Lehmann: "Musik und Wirklichkeit"

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Wohin entwickelt sich die zeitgenössische Musik? Angesichts der vielen Stile, Richtungen und individuellen Ideen, die alle parallel existieren, ist es heute schwierig, den Überblick zu behalten. Der Wissenschaftler Harry Lehmann hat es trotzdem versucht.

Die digitale Revolution geht auch an Komponistinnen und Komponisten nicht vorbei. Der klassische Weg, vor dem leeren Notenpapier zu sitzen, ist zum großen Teil längst der Arbeit mit Notenschreibprogrammen gewichen. Allerdings ist die Materialsituation überhaupt eine ganze andere, da man immer mehr einfach so digital zur Verfügung hat.

Relationale Musik

Dadurch verändert sich das Komponieren selbst und damit der Charakter der Werke. Harry Lehmann analysiert: "Konnte der Anspruch, etwas genuin Neues zu komponieren, bis in die 1970er-Jahre noch über das Erfinden neuer Kompositionsstile und -verfahren eingelöst werden, die gänzlich unbekannte Hörerfahrungen vermittelten, so hat sich das Neuartige einer Komposition heute auf das Zusammenspiel von Musik mit Texten, Videos, performativen Elementen und theoretischen Konzepten verschoben."

Einen Begriff führt der Autor zur Beschreibung dessen ein: relationale Musik. Das bedeutet, vereinfacht gesagt, dass das verwendete Material als Original im Werk erkennbar bleibt, etwa Weckerklingeln oder Motorradlärm. Ebenso verhält es sich mit visuellen Dingen.

Populärmusik und Kunstmusik

Besonders deutlich wird das bei der Analyse eines Werkes von Moritz Eggert: "Muzak" für Stimme und Orchester. Eggert setzt sich mit dem Phänomen von Hintergrund- und Fahrstuhlmusik auseinander. 45 Minuten Stilimitationen von Schlager- und Herzschmerzmusik von Elvis Presley über Udo Jürgens bis zu Heino. Auch die verwendeten Texte sind klar als Schlagerkitschdichtung identifizierbar.

Der verwendete Originalstil ist klar erkennbar, das Stück ist eindeutig ein ironischer Kommentar, und es ist doppelcodiert, weil sowohl Fans von Populärmusik als auch die von Kunstmusik Dinge darin wiedererkennen.

Künstliche Intelligenz

Das ist ein Musikbuch, aber weit mehr als das. Entwicklungen wie diese betreffen viele andere Bereiche der Kunst, sogar etliche des täglichen Lebens. Beispiel: Künstliche Intelligenz. Keine Erfindung von heute – bereits 2001 wurde eine "10. Sinfonie" von Beethoven damit konstruiert.

KI hat aber eben auch Folgen für das Verständnis von Komponieren: "Wenn der Kompositionsprozess durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz einfacher und effizienter wird, dann steigt – so die Prognose – für Komponisten und Künstler die Motivation, sich explizit mit gesellschaftlichen, politischen oder philosophischen Themen zu beschäftigen."

Musikphilosophie

Ein bisschen Zeit muss man sich reservieren, um Dinge, Begriffe und Modelle zu durchdenken. Es ist eben Musikphilosophie. Aber es lohnt sich, nicht nur, weil das Buch jüngste Phänomene zum Gegenstand hat, sondern weil es mit z. T. sehr originellen und auch durchaus amüsanten Beispielen arbeitet.

Und es muss nicht nur bei der abstrakten Lektüre bleiben – die meisten Beispiele findet man auf YouTube. So bekommt man ein mitunter anstrengendes, aber auch in hohem Maße vergnügliches Buch.

Andreas Göbel, rbbKultur

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