Jan Peter Bremer: Nachhausekommen © Berlin Verlag
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Roman - Jan Peter Bremer: "Nachhausekommen"

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Heimat ist da, wo der Mensch zu Hause ist. "Nachhausekommen", so der Titel von Jan Peter Bremers autobiografischem Roman, wäre also ein andern Begriff für Heimat. Diese Heimat ist nicht einfach nur ein Ort, an den man zurückkehrt, sondern mehr noch eine Zeit: die Kindheit. Dass diese Kindheit in einer Künstlerkolonie auf dem Dorf ein Stoff wäre, war Jan Peter Bremer schon lange klar, doch erst jetzt, als bald 60-Jähriger, gelang es ihm, die richtige Perspektive zu finden und das Kind, das er war, ohne Groll wie durch eine frisch geputzte Scheibe zu betrachten.

"Heimat ist da, wo noch niemand war", lautet ein berühmter Satz des Philosophen Ernst Bloch. Das gilt selbstverständlich auch für die Erinnerungen von Jan Peter Bremer, der das, was er da tut, als eine "Form zwischen Erinnern und Erfinden" bezeichnet.

Problemkindheit

Was Jan Peter Bremer in "Nachhausekommen" beschreibt, ist eine Problemkindheit. Als seine Eltern Anfang der 1970er Jahre aus Westberlin ins Wendland zogen, war er sechs Jahre alt. Sein Vater, der Grafiker und Maler Uwe Bremer, war als Künstler eine Berühmtheit. Mit ihm zog nicht nur die Rixdorfer Druckwerkstatt in das Dörfchen Gümse um. In seinem Gefolge befanden sich zahlreiche Künstler und Schriftsteller wie Hans Christoph Buch, Reinhard Lettau oder H.C. Artmann, die dort zu den ständigen Besuchern gehörten.

Es ist eine links-anarchische, künstlerische Bohéme, die sich dort versammelt und die von den Dorfbewohnern mit Argwohn, ja Misstrauen betrachtet wird. Schließlich sehen all die Langhaarigen und Vollbärtigen aus wie die Terroristen auf den Fahndungsplakaten der Polizei, und da alle Dörfler die CDU wählen, sind auch die Anhänger Willy Brandts suspekt. "Die Meinungen und Ansichten, die bei uns zu Hause vertreten wurden, liefen den Meinungen und Ansichten, die im Dorf herrschten, in nahezu allem völlig zuwider."

Ein Künstler-, Adoleszenz- oder Heimatroman

Ausbaden muss das der Junge, denn er ist auf die Dorfkinder und Klassenkameraden angewiesen. Doch er wird behandelt wie ein Aussätziger, der sein Fahrrad nicht im gemeinsamen Fahrradständer abstellen darf und wo der Garderobenhaken neben seiner Jacke stets leer bleibt. Wegen seiner Struwwelpeter-Frisur heißt er "das Mädchen" und hat auch ansonsten wenig zu lachen. Nur mühsam lernt er Lesen und Schreiben, stolpert ständig über die eigenen Füße, kommt in der Schule kaum mit und deshalb auch nicht aufs Gymnasium, und auch sein zeichnerisches Talent ist dermaßen verkümmert, dass der Künstlervater das nicht ohne Schmerzen ertragen kann.

Dieser Junge, so wie Jan Peter Bremer ihn im Rückblick durch die Fensterscheibe entwickelt, ist ein wahrer Taugenichts, der auf dem Land zwar glücklich ist, im Dorf aber ein Fremder bleibt. Der Fixpunkt der Erzählung ist dann aber der Moment, in dem er das Geschichtenerzählen und damit das Schreiben für sich entdeckt. Da kann er sich endlich sogar merken, was "beschreiben" auf Englisch heißt. "Describe" lautet das letzte, programmatische Wort des Romans.

"Nachhausekommen" lässt sich also als Künstlerroman ebenso lesen wie als Adoleszenz- oder als Heimatroman, der in der Verankerung in der Provinz durchaus typisch für die bundesdeutsche Geschichte ist. Zugleich ist es ein luzides Vater-Sohn-Porträt, das die Figur des hinter Pfeifenrauch verschwindenden und in seiner Kunstversunkenheit ziemlich unnahbaren Vaters zum Leuchten bringt.

"An diesem neuen Ort", schreibt Jan Peter Bremer, "stand mir nun auch mein Vater plötzlich in seiner ganzen Bedeutung sichtbar vor Augen, und ich begriff, dass er, mein Vater, ein ganz außergewöhnlicher Mensch war."

Kostbare, schöne Sprache

Das Kostbarste, Schönste an "Nachhausekommen" ist jedoch die Sprache. Bremer ist ein feiner Stilist, der eine sanfte Ironie hinter langen, kunstvoll geflochtenen und oft ein wenig altmodisch klingenden Satzkaskaden verbirgt. Sein Blick auf die Wirklichkeit ist in seiner puppenstubenhaften Genauigkeit sehr oft komisch, ohne das Komische ausstellen zu müssen. Schließlich geht es ja um das Leiden des Kindes, um seine Einsamkeit und Unverstandenheit, aber auch um sein eigenes Unvermögen. Ohne im kindlichen Erleben aufzugehen, lässt Bremer die Gefühlswelt des Kindes lebendig werden. Das gelingt ihm aus der Distanz, durch die "geputzte Fensterscheibe" hindurch, aber eben doch mit aller Empathie und Nähe, die in dieser kunstvollen Künstlichkeit möglich ist.

Jörg Magenau, rbbKultur

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