Terézia Mora: Mora oder Die Hälfte des Lebens © Luchterhand
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Roman - Terézia Mora: "Muna oder Die Hälfte des Lebens"

Bewertung:

"Muna oder Die Hälfte des Lebens" ist der neue, große Wurf der Büchner-Preisträgerin Terézia Mora und steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis: Ein Roman über das emotionale Erbe der DDR, über die große Liebe und männliche Gewalt.

Triggerwarnung! Wer diesen Roman liest, wird ihn nicht mehr los, wird sie nicht mehr los: die Ich-Erzählerin Muna. Nicht nur entwickelt sie sich in diesem Buch zu einer sehr lebendigen, sehr widersprüchlichen, sehr verletzten Frau; sie kann sogar zu einer sehr intimen Freundin werden, die ihre Leserin und sicher auch ihren Leser aufmerksam beobachtet und fragt: Wie hältst Du’s mit der großen Liebe? Mit familiären Mustern? Mit sexueller Gewalt?

Muna

Muna Appelius ist gerade 18 geworden, als ihre Mutter sich das Leben zu nehmen versucht. Die Mutter, eine Schauspielerin, hat ihre Alkoholkrankheit nicht mehr im Griff, seit Munas Vater, arm, aber "genial", an Lungenkrebs gestorben ist. Die Stadt heißt Jüris, erinnert an Magdeburg kurz vor dem Mauerfall. Muna möchte vielleicht Journalistin werden, ein Redakteur der "Volksstimme" empfiehlt ihr ein künstlerisches Magazin. Das Theater, Literatur, Künstlerkreise, Männerkreise, das ist Munas Welt, in der sie gesehen, anerkannt, ankommen möchte. Das Motto ihrer Mutter - "Dass sie dich ficken, lässt sich nicht vermeiden. Achte nur immer darauf, dass du sie ebenso fickst wie sie dich" - widert sie an; sie sucht, mit Hölderlin gesprochen, "ein Anderes immer". Sie findet Magnus. Lehrer, Fotograf, "der schönste Mann, den ich je im Leben sehen würde."

Liebe

Es ist Liebe auf den ersten Blick für sie, ein One-Night-Stand für ihn, dann ist er weg. Kurz darauf auch die DDR, in der sie ganz unterschiedlich aufgewachsen sind. Muna in einer Künstlerfamilie im maroden Altbau, in der zu viel geraucht, getrunken und zu schnell gestorben wurde; Magnus in einem Kontrollhaushalt im Neubau, wo Disziplin, Gehorsam, Schläge und vermutlich Schweigen über die Stasi- oder Parteitätigkeit der Eltern alles waren. "Er hat etwas Dunkles an sich", versucht Muna die Anziehungskraft von Magnus zu beschreiben. Muna selbst ist blond und schön wie "Marilyn" – so nennen sie die "Jungs" an der Uni. Sie beherrscht bald alle weiblichen Rollen: sie kann kühl, klug, aufreizend, anregend, aufregend, netzbestrumpft oder latzhosig sein, Mona Lisa Marilyn, doch sie liebt nur den einen, den sie erst sieben Jahre nach der gemeinsamen Nacht wiedertrifft.

Gewalt

Mora warnt Muna oder ihre Leser, die bis zur Hälfte des Buchs auf die Erfüllung der großen Liebe hoffen, obwohl Muna inzwischen diverse Männer kennengelernt hat, den lässigen Literaturdozenten Bartley, den abwesenden Schriftsteller Frederic, den Tresenpoeten Arnold, den großzügigen Aria – nicht immer, und nicht immer körperlich, aber doch immer wieder wurde sie durch Männer missbraucht. Mit Magnus sollte es anders sein und wenn nur für "einen Tag Urlaub aus der Hölle". Erst mit ihm, so Muna, "weiß ich, dass das Leben, das ich lebe, wirklich meins ist." Sie klammert sich bis zur Selbstaufgabe an Magnus, er beantwortet ihre Hingabe mit zunehmender Gewalt; beide versinken, verstricken sich, ersticken schier in einer Opfer-Täter-Abhängigkeit. Mitten im prekären geisteswissenschaftlichen Milieu zwischen London, Paris, Wien und Berlin, während Muna über vergessene Autorinnen mit "Migrationshintergrund in der K.u.K. Monarchie" forscht und Magnus über "Männlichkeitskonstruktionen" in der Literatur.

Schreiben

Nur das Schreiben rettet Muna, die – endlich getrennt von Magnus – Traumsequenzen zu Erzählungen verdichtet. Sie eröffnet einen Buchladen mit einer Freundin, findet einen Verlag für ihr Buch. Wo vorher selbstzensierte Passagen durchgestrichen im Roman auftauchten – ganz im Sinne von Magnus' Aufforderung: "Wenn du doch nur Abstand davon nehmen könntest zu reden" – wird Muna zur Autorin. Zu einer, wie sich herausstellt, mit allen Wassern der Erzählkunst gewaschenen Autorin. Die ihrem gewalttätigen Geliebten am Ende vielleicht selbst das Leben nimmt. Und die auch nach der letzten Seite dieses vielseitigen, atemberaubenden Romans immer wieder mit Fragen aufkreuzt: Wie hältst Du’s mit der großen Liebe? Mit familiären Mustern? Mit sexueller Gewalt?

Natascha Freundel, rbbKultur

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