Gulraiz Sharif: Ey hör mal! © Arctis Verlag
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Kinderbuch | ab 12 Jahren - Gulraiz Sharif: "Ey hör mal!"

Bewertung:

In seinem Debütroman "Ey hör mal!" hat sich der norwegische Autor Gulraiz Sharif lange vor dem mutmaßlich islamistischen Anschlag auf einen queeren Nachtclub in Oslon mit dem Thema Queerness in muslimischen Familien beschäftigt und damit einen Nerv getroffen: In Norwegen wurde sein Jugendbuch als Sensation gehandelt und mit dem Debütantenpreis für Kinder- und Jugendliteratur des norwegischen Kulturministeriums ausgezeichnet.

Gulraiz Sharif erzählt nicht aus der Sicht eines Betroffenen, sondern aus der seines großen Bruders. Der 15-jährige Ich-Erzähler Mahmoud hat auch erstmal ganz andere Probleme, als dass sein kleiner Bruder gerne mit Puppen spielt und sich mit Mamas Sachen verkleidet. Bis dessen sexuelle Identität wirklich zum Thema wird, ist die Hälfte des Buches schon vorbei. Erstmal geht es um die naheliegenden Identitätsprobleme, die man hat, wenn man als Sohn pakistanischer Einwanderer in einer Plattenbausiedlung am Rand von Oslo lebt. Anders zu sein als die norwegischen Norweger zum Beispiel, die zum Beginn der Sommerferien in ihre Hütten in den Bergen, am See oder am Meer fahren. Für die sind die Sommerferien super, das stellt Mahmoud gleich im ersten Satz klar: "Für uns Ausländer ohne Asche gar nicht super! Was solln wir denn schon machen?"

Mahmouds Sicht auf die Welt

Und damit ist man als Leser:in mitten drin in Mahmouds Welt, von der er im schönsten Ghetto-Slang erzählt. Eine Welt, in der die meisten Leute arm sind, selbst wenn sie wie Mahmouds Eltern den ganzen Tag als Taxifahrer und Putzfrau schuften. Die in konservativen Kreisen oft als "Parallelgesellschaft" bezeichnet wird. Die meisten Nachbarn sind eingewandert und halten die Traditionen ihrer Heimatländer hoch, selbst wenn sie schon seit Jahrzehnten in Norwegen leben. Das gilt auch für Mahmouds Eltern. Sie sind nach Norwegen gekommen, damit ihre Kinder es mal besser haben, aber erwarten trotzdem, dass die sich so verhalten, wie es in Pakistan üblich ist. Und sie setzen das notfalls auch mit körperlicher Gewalt durch.

Mahmoud kommt selten raus aus dieser Welt, denn dafür würde man ja Geld brauchen. Stattdessen hängt er mit seinem besten Freund zwischen den Hochhäusern ab oder schleppt für seine strenge Mutter die Einkäufe in den 11. Stock.

Doch in diesen Ferien kommt der Onkel aus Pakistan zu Besuch, und weil seine Eltern zu wenig Zeit haben, zeigt Mahmoud ihm das "norwegische Oslo". Und währenddessen lässt er seine Leser:innen an seiner Sicht auf die Welt teilhaben. Oft eingeleitet von "Ey hör mal!" zieht er dabei sowohl über die norwegischen Norweger als auch die eingewanderten her. Gulraiz Sharif, der genau wie sein Protagonist, pakistanische Wurzeln hat, spielt dabei sehr gekonnt mit Klischees und konfrontiert uns immer wieder mit unseren Vorurteilen:

"Ey hör mal! Ich schreib dieses Buch, weil norwegische Norweger auf so was abfahren. Die lieben es, wenn ein Ausländer, am besten noch´n bisschen unterdrückter und ungeschliffener Diamant, so ein, zwei Bücher schreibt. Darüber, wie es eigentlich ist, dunklere Haut zu haben, über die ganzen Narben, allen Schmerz, alle Schwierigkeiten. Weil sie trauen sich halt nicht, direkt mit uns zu reden. Haben Schiss, dass wir ihnen die Handtasche wegreißen, wenn wir ihnen zu nahe gekommen, Mann! Dann lieber ein Buch lesen, Bro. Mit genügend Abstand. Einer Tasse Tee daneben, in ´ne Decke gekuschelt. Sich dabei entspannen, weißte. So verstehn sie uns. Danach fühlen sie sich dann genauso, als wenn sie´nen Doktortitel gemacht hätten, als wenn sie ihren Horizont erweitert hätten."

Konfrontiert mit typisch antimuslimischen Vorurteilen

Das zweite große Thema des Romans, die sexuelle Identität des zehnjährigen Ali, wird zunächst beiläufig erzählt und erst im Laufe des Buches immer wichtiger und präsenter. Mahmoud und sein Onkel treffen bei ihren Touren durch Oslo zum Beispiel auf die Pride Parade, die dort jedes Jahr im Juni stattfindet und jetzt ganz aktuell nach dem Anschlag in Oslo abgesagt worden ist. Für den Onkel ist das ein absoluter Kultur-Schock. Er ist es auch, der sich am Verhalten von Mahmouds kleinem Bruder stört, der sich mehr für Disney-Prinzessinnen als für die Action-Figuren interessiert, die er ihm aus Pakistan mitbringt. Bisher war das in der Familie nie ein großes Thema und wurde damit abgetan, der Bruder sei mit zehn Jahren einfach noch klein. Die Bemerkungen des Onkels und ein Besuch in der Moschee verunsichern ihn aber immer mehr und schließlich vertraut er Mahmoud an, dass er sich nicht als Junge, sondern als Mädchen fühlt.

Auch bei diesem Thema spielt der Autor mit Klischees und konfrontiert seine Leser:innen mit typischen antimuslimischen Vorurteilen. Er lässt Mahmoud darüber nachdenken, wie seine konservative Familie reagieren wird, ob der Vater und der Onkel womöglich einen sogenannten "Ehrenmord" an seinem kleinen Bruder begehen könnten und an ihm als Mitwisser gleich mit. Dazu kommt es nicht, aber Gulraiz Sharif tut auch nicht so, als ob es seinen Eltern leichtfallen würde, das Coming-Out des Bruders zu akzeptieren.

Unverwechselbarer Sprachstil

Gulraiz Sharif hat ein Jugendbuch zum Lachen, zum Weinen und vor allem zum Nachdenken geschrieben. Seine Themen sind so wichtig, dass es zur Pflichtlektüre in der Schule werden sollte. Nur so können sie in die ganze Gesellschaft getragen werden, auch in Familien wie der, um die es in dem Buch geht, und dazu beitragen, Vorurteile auf allen Seiten abzubauen. Und ganz nebenbei hat das Buch auch sprachlich durch den schnoddrigen, frechen Slang des Ich-Erzählers – toll übersetzt von Meike Blatzheim und Sarah Onkels – einen ganz unverwechselbaren Stil.

Sarah Hartl, rbbKultur