Niall Ferguson: "Doom"; Montage: rbbKultur
Bild: Deutsche Verlags-Anstalt

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Dezember 2021

Wir präsentieren unsere zehn Sachbücher des Monats, ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren. Im Dezember geht es um das in Büchern gesammelte Wissen und auf Platz 1 um vergangene Katastrophen – und was sich eventuell daraus lernen lässt.

Erbaulich ist etwas anderes – jedenfalls nicht der Inhalt des Buches an der Spitze unserer Dezember-Liste: Doom – was aus dem Englischen übersetzt so viel bedeutet wie Untergang mit einem großen Knall. Es geht hier um nichts weniger als "die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft" des Harvard-Historikers Niall Ferguson. Und es geht hier nicht um das Video-Spiel gleichen Namens mit dem speziellen Gruseleffekt, sondern leider um die Wirklichkeit, und deren bittere Wahrheit ist: Katastrophale Ereignisse "liegen im Bereich des Ungewissen, nicht in dem der berechenbaren Wahrscheinlichkeiten" (S. 36).

Wir alle wissen: Ungewissheit macht uns Angst und ist in unserer durchrationalisierten, hochkomplexen Gesellschaft von allergrößtem Übel. Dabei tragen zur Ausbreitung der Katastrophe viele bei: Krankheitserreger, Naturphänomene, Kriege, Klima, die globalen Netzwerke wirtschaftlicher, sozialer und politischer Art, einzelne Politiker und, nicht zu übersehen, die jeweiligen Verhältnisse, und darin eingeschlossen z.B. das Missvergnügen der Manager oder politischen Tops, auf Warnungen des niederen Bodenpersonals zu hören, auch Feynmans Gesetz genannt.

Gerade das diskutieren wir zur Zeit in Sachen Corona-Pandemie. "Jede Regierung", könnte man mit Ferguson sagen, "bekommt die Katastrophe, auf die sie am wenigsten vorbereitet ist und die sie am meisten verdient." (S. 446). Und das heißt, wieder bezogen auf die Pandemie: "In Wahrheit hat die Pandemie … die Schwächen aller großen Akteure auf der Weltbühne bloßgestellt" (S. 456). Die Wirklichkeit hält ein großes Arsenal des Schreckens bereit. Das ist nicht tröstlich. Nachzulesen sind diese vergangenen und zukünftigen Schrecken, worauf Niall Ferguson immer wieder hinweist und am Schluss seines Buches sogar recht ausführlich, schon seit langem: in Büchern.

Nicht alle Geheimnisse ausplaudern

Dass Bücher freilich auch Katastrophen unterworfen sind, und zwar sehr unterschiedlichen: Verbrennen, Zerreißen, als Straßenpflaster zweckentfremdet werden, dem biologischen Zerfall, nagenden Parasiten etc. zeigt uns der Bibliothekar Richard Ovenden. Er lässt uns in seiner "Geschichte der Zerstörung und Bewahrung des Wissens" durch viele Jahrhunderte und mancherlei Schauplätze wandern, und es wird klar, dass die Zerstörung von Büchern im umfassenden Sinne die Vernichtung von Wissen bedeutet, das Verschwinden von Geschichtskenntnis und kultureller Werte.

Selbst in unserer Gegenwart, in der unzählige Texte, Dokumente, wissenschaftliche Zeugnisse in den global verstreuten – aber auch global zugänglichen - Datenspeichern vorhanden sind und es immer mehr werden, sind offenbar Bücher bedroht, weil sie, anders als elektronisch gesammelte Daten, quasi körperlich anwesend sind. Sie sind eben Schatzbehalter des Wissens und zugleich Repräsentanten der kulturellen Identität von Personen, Gesellschaften, Staaten.

Die Suche nach Identität nimmt heute vor allem durch die elektronischen Medien bisweilen bizarre Formen an. Dabei ist, wie Valentin Groebner in seiner "kurze[n] Geschichte der Selbstauskunft" schreibt, Selbstdarstellung von der Angst geprägt, dass einen niemand sieht, und der Angst, dass alle ihn sehen und sich über ihn lustig machen. Ein schwieriges Dilemma, aus dem vielleicht nur die "Verteidigung des Geheimnisses" heraushilft, die uns die 2017 verstorbene französische Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle empfiehlt.

Sie führt uns aus den Zwängen und Gefängnissen moderner Offenlegungsmaschinen wie Facebook, Instagram etc. heraus und bestärkt uns, nicht alle Geheimnisse unseres Lebens und unserer materiellen Körperlichkeit auszuplaudern. Ein historisch-theologisch-philosophisch-psychoanalytischer Blick auf das Recht, dunkle Kammern in unserem Haus zu haben.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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Themen beleuchten, Probleme analysieren, Lösungen diskutieren: Sachbücher bieten in einer immer komplexeren Welt Orientierung – aber wer kennt schon die Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt? 24 namhafte Jurorinnen und Juroren aus Wissenschaft und Publizistik bewerten Monat für Monat neue Sachbücher nach Relevanz, Originalität und Lesbarkeit. Ihre Funde sammeln wir als "Sachbücher des Monats" und ergänzen sie durch die "Besondere Empfehlung" eines ausgewählten Lesers – eine Lesehilfe für ein interessiertes Publikum.