
Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Dezember 2022
Vielleicht finden Sie hier das eine oder andere Buch, das Sie jemandem unter den Weihnachtsbaum legen mögen, in unserer Dezember-Liste - ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren, präsentiert von rbbKultur. Auf Platz 1 steht eine aufschlussreiche Geschichte Russlands, in anderen Sachbüchern geht es um die Wehrhaftigkeit der Demokratie oder phantastische Literatur.
Wladimir Putin hat kürzlich erneut behauptet, westliche Werte gefährdeten russische Kultur und zerstörten auch russische Werte. Aber woher kommt die Feindschaft russischer Werte gegenüber westlichen Werten? Wie ein roter Faden zieht sich dieser Antagonismus von Ost gegen West durch die "Geschichte Russlands", wie sie der in London lehrende Historiker Orlando Figes sieht. Er nennt seine Geschichte Russlands ausdrücklich "Eine Geschichte Russlands" und macht von Anfang an klar, dass es offenbar mehrere Geschichtsbilder gibt.
Geschichtsmythen prägen die russische Geschichte
Und in der Tat lernen wir bei Figes, dass das Problem der russischen Identität mit der Frage zusammenhängt, worauf Russland seine Herkunft und seine Geschichte gründet: auf die skandinavischen Rus, die u.a. Kiew gegründeten und ein Reich erschufen, oder die Mongolen, deren "Goldene Horde", aus Asien kommend, Russland mehrere Jahrhunderte beherrschte und der Russland sehr viel mehr an Kultur und vor allem Herrschaftsformen verdankt, als viele Russen wahrhaben wollen, und schließlich Byzanz, in dessen Nachfolge – als drittes Rom - sich die orthodoxe Russische Kirche, verbunden mit einem tief religiösen Heilsversprechen, gerne sieht.
Offensichtlich greifen die Herrscher Russlands, die Khane, Zaren oder gar, das macht Figes immer wieder klar, auch ein Autokrat wie Putin, auf alle Geschichtsmythen zurück, je nach Bedarf. So lernen wir viel in diesem Buch über Russland, sein Schwanken zwischen Ost und West, sein Festhalten an autokratischen Gesellschaftsformen mit all seinen Spannungsmomenten innerhalb der Gesellschaft: "Dieses Ungleichgewicht zwischen einem dominanten Staat und einer schwachen Gesellschaft hat den Lauf der russischen Geschichte geprägt" (S.97). Das Buch endet in der Gegenwart und der Frage nach der Zukunft Russlands: "Russlands Zukunft ist ungewiss", schreibt Figes, aber "eines steht fest: Seine Geschichte wird nie wieder die gleiche sein" (407).
Buch der Whistleblowerin Chelsea Manning
Ungleichgewichte zwischen Staat und Gesellschaft bzw. einzelnen Bürgern gibt es natürlich nicht nur in autokratischen Staaten. Ein krasses Beispiel ist die als Whistleblowerin bekannt gewordene Amerikanerin Chelsea Manning, die im Jahr 2010 als Nachrichtendienst-Analystin im Irak geheime Militärdokumente veröffentlicht hat, im Glauben, damit der Wahrheit des Krieges ans Licht zu verhelfen.
Das US-Militär sah das anders; es verurteilte Manning, die damals noch ein Mann war, zu 35 Jahren Haft. In ihrem Buch "README.txt" schildert sie ihr Leben als einen Kampf gegen die Gesellschaft, die eine Trans-Identität nicht duldet, und einen Staat, der die Wahrheit seines Handelns vertuscht, und immer fragt sich der Leser, wer stärker ist: der Staat, das Militär, die Gesellschaft oder der/die Einzelne.
Die Sehnsucht nach einem besseren Leben
Unsere aktuelle Liste legt die Vermutung nahe, dass unsere Jury der allgegenwärtigen Krisen ein bisschen überdrüssig ist; sie lenkt den Blick auf Bücher, die die ewige Sehnsucht nach einem besseren oder doch zumindest selbstbestimmten Leben schildern: künstliche Paradiese und romantische Lebensweisen. Der Literaturwissenschaftler Norbert Miller schildert "Die künstlichen Paradiese" als "Schöpfung aus Traum, Phantasie und Droge", die uns womöglich eine Flucht aus der Misere der Realität ermöglicht.
Und die Publizistin Andrea Wulf bringt uns "Fabelhafte Rebellen" näher, die in Jena um die Jahrhundertwende um 1800 sich gegen die bestehenden Verhältnisse wehrten, die Romantik erfanden und damit das Bewusstsein des "Ich". Fortan gilt, nicht nur hierzulande, hier aber besonders, das deutliche Schwanken zwischen Ich-Bezogenheit und freiem Willen.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992