Jerry Z. Muller: Professor der Apokalypse; Montage: rbbKultur
Bild: Suhrkamp Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Februar 2023

Es kommt selten vor, dass ein Buch wiederholt auf unserer Liste erscheint. Aber wenn es doch geschieht, dann darf man schon vermuten, dass die Lektüre besonders überzeugend oder der Gegenstand des Buches von großer Relevanz ist. Bei zwei Büchern ist das diesmal der Fall – ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren.

Es handelt sich um die Bücher von Wolfgang Kraushaar und Jerry Z. Muller. Unterschiedlicher freilich können die beiden Bücher nicht sein. Kraushaar hat unter dem wenig reißerischen Titel "Keine falsche Toleranz" die historischen und aktuellen Tiefenschichten von Gefahren von rechts für die Demokratie herausgearbeitet, Muller ist den "vielen Leben des Jacob Taubes" unter dem starken Titel "Professor der Apokalypse" nachgegangen.

Muller interessiert die Frage: "Wie kommt es, dass sich Taubes so unterschiedlichen Charakteren wie Irving Kristol und Rudi Dutschke, Leo Strauss und Herbert Marcuse, Gershom Scholem und Carl Schmitt zuwendete? Und warum fühlten sich so viele intellektuelle Koryphäen zu verschiedenen Zeiten zu Jacob Taubes hingezogen?“.

Nun, Taubes war offenbar "dämonisch" mit einer Mischung aus Gefahr und Inspiration. Sehr spannend zu lesen ist diese Darstellung eines Lebens "auf der Grenze zwischen Judentum und Christentum […], zwischen Zweifel und Glaube, zwischen wissenschaftlicher Distanz und religiöser Leidenschaft" (S. 13).

Schutz unserer Demokratie

Kraushaar beschreibt akribisch, mit einer erstaunlichen Fülle von Details, "die Geschichte der Bundesrepublik von ihren Anfangen über die Zeit der 1990 vollzogenen deutschen Einigung hinweg bis hin zur Gegenwart […], um herauszufinden, wo einerseits bislang die Schwächen in der Verteidigung von Demokratie, Rechtsstaat und Liberalitat gelegen haben, wo andererseits aber auch ihre Stärken und ihre nicht ganz zu unterschätzende Bereitschaft zur Selbstkorrektur zu finden sind" (S. 46).

Er stößt bei dieser Beschreibung auf erschreckende Kontinuitäten von nazistischen rechten Gesinnungen, auf eine "Wagenburgmentalität der Behörden" und auf rechte terroristische Kräfte, die zu einer Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte geführt haben. Kraushaar plädiert für eine repressive Toleranz zum Schutz unserer Demokratie.

Gefährdete Gesellschaften

Wie gefährdet unsere gesellschaftliche Ordnung ist, machen auch zwei weitere Titel unserer aktuellen Liste deutlich. Hamed Abdel-Samad führt uns durch die Geschichte des Islam, um uns zu zeigen, dass der politische Islam seine Quelle in der Orthodoxie hat und von hier sein für unsere Gesellschaft gefährliches Potential bezieht. Dort liegen auch die Gründe für die Ablehnung von Werten, die uns wichtig sind: "der persönlichen Freiheit, der Gleichberechtigung, der Sexualität und der Religionskritik" (S. 13/14). "Europa muss", so Abdel-Samads Forderung, "die Reformkräfte innerhalb der islamischen Gemeinschaften fördern und diese vor der Hetze der Islamisten schützen" (S. 296/207).

Schwere Aufgaben

Gefährdet sind unsere Gesellschaften auch, weil sie sich kardinal wandeln. "Wie […] soll man eine Gesellschaft beschreiben", fragt der Soziologe Philipp Staab, "die sich nicht primär von der Selbstentfaltung, sondern von den Problemen der Selbsterhaltung her bestimmen lassen muss?" (S. 17) und er antwortet: durch Anpassung "als Effekt kapitalistischer Verwüstung und allumfassenden Weltverlusts" und als "Fähigkeit zur Lebensführung in einer Welt, für die es kein Zurück zu Fortschritt und Modernität gibt" (S. 19). Das sind düstere Aussichten und schwere Aufgaben.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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