Dieter Borchmeyer: Thomas Mann; Montage: rbbKultur
Bild: Insel Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Januar 2023

Was gibt's Neues über Thomas Mann? Was gibt's Neues über Goethe? Und über den "kleinen Unterschied"? Ist nicht alles gesagt? Nein, längst noch nicht! rbbKultur präsentiert die zehn Sachbücher des Monats, ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren.

Was gibt’s Neues über Thomas Mann? Ist nicht alles gesagt? Nein! Der Verlag und der Literaturwissenschaftler Dieter Borchmeyer versprechen uns viel: nämlich die "erste umfassende Monografie zum Werk des Nobelpreisträgers", so vollmundig der Werbeslogan des Verlages. Und der Autor selber: ein eigener, synthetischer Blick "auf das Ganze von Thomas Manns Lebenswerk und seine epochale Vernetzung" (S. 21).

Tatsächlich hält das Buch auf immerhin mehr als 1.500 eng bedruckten Seiten das Versprechen sogar und beglückt uns mit einer Art Kompendium, in dem man praktisch jedes Werk Thomas Manns, von den ersten Versuchen bis zu den allerletzten Skizzen, in seinen Kontexten studieren kann. Das Buch ist ein Kaleidoskop der Zeit Thomas Manns mit ungezählten Tiefen- und Seitenblicken in die Kultur, die Psyche und die politischen Realitäten. Der Leser vollzieht literarische Ausflüge nach, die zu einer Reise durch die Weltenzeit werden, freilich eben doch irgendwie einmalig gespiegelt in Werk und Person Thomas Manns.

Die Schwierigkeit mit Thomas Mann, die Spannung zwischen den "Betrachtungen eines Unpolitischen" und dem Feind des Hitlertums in Einklang zu bringen, löst Borchmeyer, indem er Stück für Stück, genauer: Werk für Werk, den allmählichen Übergang vom einzelnen Künstlerschicksal der Decadenzepoche bis zum "Endkampf zwischen Gut und Böse" und darüber hinaus, nämlich bis zur Heiterkeit des Vollendeten und des Abschiednehmens nachvollzieht. Ein erstaunliches Buch für Leser mit einem langen Atem, für die es sich freilich lohnt.

Erfindung der Moderne

Das "Vollendete" bringt uns zu Goethe: Was gibt's Neues über Goethe? Auch über ihn scheint ja alles gesagt. Deutsche Leser sehen in Goethe das Musterexemplar eines "geglückten Lebens", eines Menschen, dem Leben und Werk, Zeit und Gelegenheit gewissermaßen immer hold gewesen seien. Für englische Leser mag das eine schwer zu vermittelnde Wertschätzung kontinentaler bzw. typisch deutscher Provenienz sein.

Jedenfalls macht Jeremie Adler, der in England lebende Germanist, klar, dass Goethes uns vertraute Sprache, seine zwischen "Dichtung" und "Wahrheit" sich entfaltende Lebens- und Weltenklugheit für Engländer, sofern sie nicht selber Literaten oder gar Dichter sind, nicht recht nachvollziehbar ist. Insofern ist sein Ansatz, Goethe, sein Werk und vor allem sein Wirken in der Zeit als "Erfindung der Moderne" – so der Untertitel – zu apostrophieren, plausibel und bietet tatsächlich etwas Neues: indem Adler gewissermaßen Ursache und Wirkung miteinander in Wechselwirkung treten lässt, macht er deutlich, wie sich "die unterschiedlichen Stränge in Goethes Erfahrung – einschließlich seines privaten Lebens, seiner offiziellen Pflichten, seiner Forschungen, seiner künstlerischen und literarischen Bestrebungen – verflochten" und zu einer "Heiligung des Ethischen", zur "Transparenz des Daseins" geführt haben (S. 96).

So kommt Adler vom Wesenskern Goethes über das Werk zur Realität, und damit zur Moderne. Ein spannender Weg, der uns interessante Einblicke in die Wechselwirkung von Kunst und Realität öffnet.

Überraschungen aus der Evolutionsforschung

Was gibt's Neues über den "kleinen Unterschied"? Nun, über ihn ist auch noch lange nicht alles gesagt. Selbst wenn gilt, dass "der Ursprung der überwältigenden Zahl unserer Verhaltensweisen … hinter dem Schleier der Evolution verborgen" bleibt (S. 211), so gilt doch auch: Über die Unterschiede der Geschlechter wissen wir eine Menge und wir lernen, insbesondere durch den Abbau von Vorurteilen, ständig Neues hinzu. Z. B., dass männliche Babys anders spielen als weibliche. Oder dass die Partnerwahl viel stärker eine female choice ist als die meisten Menschen und Wissenschaftler erkannt haben – ein klassischer Verdrängungsprozess – und dann auch noch zu akzeptieren bereit waren und vieles mehr.

Frans de Waal, dessen Spezialgebiet es ist zu erforschen, "wie Primaten nach einer Auseinandersetzung Frieden schließen, wie sie kooperieren, wie sie Empathie und sogar einen Gerechtigkeitssinn offenbaren" (S. 235), lässt keinen Zweifel daran, dass die Evolutionsforschung noch manche Überraschung bereit hält – und sein Buch lässt uns jetzt schon an vielen teilhaben.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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Themen beleuchten, Probleme analysieren, Lösungen diskutieren: Sachbücher bieten in einer immer komplexeren Welt Orientierung – aber wer kennt schon die Neuerscheinungen auf dem deutschsprachigen Büchermarkt? 24 namhafte Jurorinnen und Juroren aus Wissenschaft und Publizistik bewerten Monat für Monat neue Sachbücher nach Relevanz, Originalität und Lesbarkeit. Ihre Funde sammeln wir als "Sachbücher des Monats" und ergänzen sie durch die "Besondere Empfehlung" eines ausgewählten Lesers – eine Lesehilfe für ein interessiertes Publikum.