
Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Juli 2022
Ein Buch, das verstehen hilft, wofür die Ukraine seit dem Angriff durch Russland kämpft. Zwei Bücher, in denen es um die Klimakatastrophe geht und das Verhalten von Politik und Gesellschaft. Eines über Macht von der Antike bis heute mit dem Titel "Zwölf Cäsaren". Vier von zehn Sachbüchern des Monats Juli, ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren – präsentiert von rbbKultur.
Die Menschen haben, das ist jetzt wohl hinlänglich bewiesen, "die Fähigkeit erlangt, in planetarische Prozesse einzugreifen". Aber, und das ist der springende Punkt: "sie sind nicht – zumindest noch nicht – in der Lage, sie wieder in Ordnung zu bringen" (S. 16) – und darum geht es in dem Buch des in Indien geborenen, jetzt in den USA lebenden Historikers Dipesh Chakrabarty. Es heißt "Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter" und hat sich auf unserer Liste gewissermaßen emporgearbeitet – im Mai stand es bereits auf ihr, damals unmittelbar nach seinem Erscheinen, jetzt nach weitergehender Lektüre an erster Stelle. Und dies durchaus zu Recht.
Denn der Autor führt seine Leser schrittweise zu einer Denkform, die epochales Bewusstsein entwickelt. Das klingt simpel, ist aber offenbar schwer zu erreichen, anders ist gar nicht zu erklären, dass sie immer noch mehr oder minder eine Utopie ist. Eins wird aber deutlich: Die Existenz des Menschen im globalen und im planetarischen Sinne ist nur mit der Anerkennung der "gegenwärtigen Notlage der Menschheit" (S. 343) möglich, und das bedeutet, mit beiden Optionen: dem Globalen, Menschlichen, und dem Planetarischen, dem vom Menschen Unabhängigen zurechtzukommen - eine große Aufgabe.
Nichtbeachtung ökologischer Regeln, die die Erde bewohnbar machen
Diese Aufgabe zu denken ist eines der Ziele, das sich der französische Philosoph Pierre Charbonnier gesetzt hat. Auch er geht von der akuten klimatischen und politischen Krisensituation aus, untersucht jedoch im Gegensatz zum planetarischen Denken im Verhältnis zum Globalen die Beziehungen zwischen Natur und Gesellschaft im Sinne einer "ökologischen Ideengeschichte" (S. 32).
Charbonnier sieht den Kern unserer politischen Geschichte in der "Nichtbeachtung der ökologischen Regeln, die diese Erde bewohnbar machen" und in der "Entwicklung einer Lebensweise, die zu diesen Regeln in Widerspruch steht" (S. 395). Gefordert wird also ein politisch und kollektiv denkendes Subjekt – hier deutlich in bestem sozialistischem Sinne -, das bereit und in der Lage ist, andere "Instanzen der Herrschaft" anzuerkennen. "Die Transformation unserer politischen Ideen muss mindestens die gleiche Größenordnung haben wie die geoökologische Transformation, die den Klimawandel ausmacht“ (S. 409), auch dies eine Mammutaufgabe.
Buch über einflussreichen Nachkriegs-Designer Otl Aicher
Globales, gar planetarisches Denken, setzt globales Verstehen bzw. globale Verständigung voraus. Die Sprachen, mit denen wir uns verständigen, reichen dazu nicht aus, trotz zunehmender Qualitäten von Übersetzungsmaschinen. Es gibt aber das Zeichen und die bildliche Darstellung, genannt Piktogramm oder ähnlich, die uns eine Verständigung über Grenzen hinweg erlauben. Einer der bedeutendsten Designer war der vor 100 Jahren geborene Otl Aicher, dem der Prestel Verlag jetzt, herausgegeben und kommentiert von Wilhelm Vossenkuhl und Winfried Nerdinger, ein reich bebildertes Porträt gewidmet hat.
Es würdigt auf eindrucksvolle Weise einen der "bedeutendsten und einflussreichsten Gestalter der Nachkriegszeit" (Klappentext) als politisch denkenden Philosophen, als künstlerischen Macher und als Entwerfer und Gestalter der Welt. Aicher verstand, um nur einen Aspekt zu nennen, seine Aufgabe darin, durch die Gestaltung des Designs einer Firma (Lufthansa, z.B.) oder eines Ereignisses (Olympiade 1972 in München), die Corporate Identity als Abbild einer inneren Haltung nach außen zu tragen. Das ist ihm gelungen; sein Design ist zum übergreifenden Maßstab geworden.
Verstehen, wofür die Ukrainer aktuell kämpfen
Der Vorwurf der Ukrainer, wir hätten uns nie richtig für ihr Land interessiert, mag unberechtigt sein; Kenntnis von Geschichte und Existenzweise des Landes haben wir dennoch nicht. Ich jedenfalls lerne Stationen der ukrainischen Geschichte erst jetzt durch das Buch "Die Frontlinie" des Harvard-Professors Serhii Plokhy kennen.
Er erklärt, "warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde" (Untertitel) und führt uns durch die Geschichte eines Landes, das immer wieder um seine Identität hat kämpfen müssen und immer wieder zwischen die Fronten größerer Mächte geriet. Vielleicht verstehen wir nach dieser Lektüre besser, wofür die Ukrainer jetzt kämpfen.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992