
Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Juni 2022
Erzählende Sachbücher: "The Quartet" regt dazu an zu fragen, ob wir nicht – angesichts der aktuellen Krisen – eine Revision unserer philosophischen Grundannahmen über die menschliche Existenz benötigen. Das Freiheit Glück und Bürde sein kann, wird deutlich in Lea Ypis "Frei". Zwei von zehn Sachbüchern des Monats Juni, ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren – präsentiert von rbbKultur.
"Elizabeth Anscombe, Philippa Foot, Mary Midgley und Iris Murdoch wurden kurz nach dem Ersten Weltkrieg geboren und begannen ihr Philosophiestudium an der Universität Oxford kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Als die männlichen Professoren und Studenten eingezogen wurden, bekamen sie Unterricht von Frauen, Kriegsdienstverweigerern und geflüchteten Wissenschaftlern. In diesem Umfeld entwickelten sie eine neue Philosophie des Lebens, der Liebe und der Schönheit als Gegenmittel zum technischen, szientistischen und skeptischen Zeitgeist."
So beschreibt der Verlag den Ausgangspunkt der faszinierend erzählten Geschichte der vier Frauen, die die "Philosophie zurück ins Leben brachten". Das Buch mit dem Titel The Quartet von Clare Mac Cumhaill und Rachel Wiseman steht auch deswegen ganz oben auf unserer Liste, weil es uns dazu anregt zu fragen, ob nicht auch wir, wie die vier Frauen, angesichts der aktuellen Krisen unserer Zeit eine Revision unserer philosophischen Grundannahmen über die menschliche Existenz benötigen.
Diese vier Frauen jedenfalls entdeckten in ihrer Zeit, "dass … die Moralphilosophie ganz von vorne beginnen muss. Sie muss viel weiter zurückgehen als bis zu Fragen wie 'Was zu tun ist moralisch richtig?', 'Welche moralischen Prinzipien sollte ich wählen?' oder 'Welche Konsequenzen sind moralisch besser?'". (S. 32) In gewisser Weise hat das Verhalten der vier Philosophinnen auch damit zu tun, sich die Freiheit zu nehmen, sich eigene Gedanken zu machen, die nicht von der Schulphilosophie vorgegeben sind.
Autobiografische Sachbücher
Um Freiheit geht es auch in dem Buch der in Albanien geborenen Lea Ypi: "Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" heißt es und stellt ein "autobiografisches Sachbuch" dar. Diese Bezeichnung weist auf ein Genre hin, das zunehmend das Interesse der Leser gewinnt, in unserer Sachbuchliste aber gewiss zum Grenzbereich dessen gehört, was unsere Jury als Sachbuch zu bewerten gewohnt ist. Und es ist nicht das einzige auf unserer aktuellen Liste. Auch Andrea Roedings Mahnung "Man kann Müttern nicht trauen" gehört dazu. Und doch haben viele Juroren gerade diese Bücher ausgewählt. Warum?
Beide Bücher sind Zeitporträts, beide sind zugleich soziologische Studien von Entwicklungsprozessen von Mädchen bzw. Frauen. Es geht in ihnen, das ist vielleicht typisch für die Art erzählender Sachbücher, zu denen übrigens auch "The Quartet" gehört, ebenso um die Personen wie um die Sachen, genau genommen eher um das, was jemanden "angeht" als das, was jemand macht. Allerdings nach dem Motto "Das Private ist politisch". Das mag die zum Teil sehr ausführlichen familien- und personenbezogenen Darstellungen erklären, insbesondere in dem Buch von Andrea Roeding.
Freiheit ist Glück und Bürde
Freiheit, das wird in diesen Büchern deutlich, ist ein Glück und eine Bürde, je nach den Voraussetzungen, in denen sie den Menschen zuteil wird. Für Japaner, so Pico Iyer in "Japan für Anfänger" (das Buch hat es leider nicht auf unsere Liste geschafft), bedeutet Freiheit "weniger eine Fülle von Wahlmöglichkeiten, sondern vielmehr die Befreiung von der Last einer zu großen Auswahl" – und auch Lea Ypi fühle sich so frei, "dass mir die Freiheit manchmal wie eine Bürde erschien und gelegentlich … sogar wie eine Bedrohung" (S. 14).
Freiheit, das lernen wir in beiden Büchern, ist die Möglichkeit, aus dem eingeschlossenen Inneren des privaten Lebens, der Gedanken, der gesellschaftlichen Enge herauszutreten und sich zu entscheiden.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992