Michael Borgolte: Die Welten des Mittelalters; Montage: rbbKultur
Bild: C.H. Beck

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Mai 2022

rbbKultur präsentiert die zehn Sachbücher des Monats Mai, ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren. Den Spitzenplatz der Liste belegt Michael Borgolte mit einem kolossalen Werk über das Mittelalter. Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty darüber, wie der Klimawandel unsere Idee von Geschichte verändert. Und köstlich zu lesen ist Jill Lepores "geheime Geschichte von Wonder Woman".

"Der Spruch der Vergangenheit ist immer ein Orakelspruch: Nur als Baumeister der Zukunft, als Wissende der Gegenwart werdet ihr ihn verstehen" (Nietzsche) – eine Weisheit, die uns auch verstehen lässt, warum so oft Bücher mit historischen Inhalten auf unserer Liste erscheinen: Wir wollen aus der Vergangenheit lernen.

Das Mittelalter z.B., früher als das „finstere“ gesehen, wird heute als eine globale Epoche in den Blick genommen, so von Michael Borgolte, der mit seiner kolossalen Studie die "Globalgeschichte eines Jahrtausends" über die "Welten des Mittalters" vorgelegt hat – wobei kolossal nicht nur den schieren Umfang mit über 1.000 Seiten meint, sondern die respektvolle Neubestimmung einer Welt, in der Europa nur ein Teil, und nicht immer der entscheidende, war. Auf diese Weise rücken "Reiche als Kommunikationsräume", "Beziehungsnetze der Religionen" und "Der Fernhandel" als Gestaltungskräfte des historischen Geschehens in den Mittelpunkt und es gelingt die Beobachtung einer Einheit historischen Handels in der Diversität der Entscheidungen. Eine wirkliche Meisterleistung.

Menschen aus planetarischer Perspektive nebensächlich

Global im allergrößten Sinne ist jener Blick, der unsere Welt als Planeten in seiner eigenen kosmischen Geschichte erfasst. Dieser Blick reicht bis zur Entstehung der Erde zurück und führt bis weit in die Zukunft; innerhalb dieser Zeitspanne nimmt die irdische Geschichte mit ihren neuen Erscheinungen wie Anthropozän für unser gegenwärtiges Zeitalter, mit machtvollen Technosphären etc. nur einen Bruchteil ein.

Der in Indien geborene, jetzt in Chicago lehrende Historiker Dipesh Chakrabarty sieht die üblicherweise getrennt voneinander existierenden Wahrnehmungen des Erdsystems, des Lebens (einschließlich der Evolution des Menschen) und der Geschichte der technischen Zivilisation als miteinander verbundene Verläufe an, die wir heute als Klimawandel identifizieren. Daraus, so folgert Chakrabarty, ergibt sich eine "Divergenz innerhalb unseres Bewusstseins zwischen dem Globalen – als einer ausschließlich menschlichen Geschichte – und dem Planetarischen, aus dessen Perspektive Menschen nebensächlich sind" (S. 121). Was wir also brauchen, ist ein "epochales Bewusstsein", dessen Wesenskern ethisch ist. Wie das im Einzelnen funktionieren kann, lässt sich dem Gespräch entnehmen, das der französische Philosoph Bruno Latour mit dem Autor geführt hat und das wir als Schlussteil lesen können.

Sind farbige Bilder wahrhaftiger als schwarz-weiße?

Die berühmten vier philosophischen Grundfragen von Immanuel Kant "Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?" sind heute aktueller denn je. Was zählt denn eigentlich in Zeiten von Desinformation und Fakenews, Verschwörungstheorien und Propaganda? Die täglichen Nachrichten, die Twitter-Schnipsel, die Bilder, die wir in TV und Internet sehen? Immerhin kann man sich damit vertraut machen, "Wie Geschichte zu Bildern wird". Der Berliner Kunsthistoriker Peter Geimer hat den speziellen Aspekt herausgepickt, um eben diesen Prozess zu beschreiben, es sind "Die Farben der Vergangenheit". Nicht alle Bilder lügen, aber sind farbige Bilder "lebensechter" und dichter an der Wahrheit als Schwarzweiß-Abbildungen? Oder eher umgekehrt?

Wonder Woman sollte die Welt beherrschen ...

Es ist erstaunlich, wie das exzentrische Leben eines hochbegabten Menschen zwar nicht gerade die Welt, aber doch die Kultur eines großen Landes beeinflussen kann: Die Rede ist vom Erfinder der Comic Strip Figur Wonder Woman, William Moulton Marston, der zugleich auch der Erfinder des Lügendetektors in den USA war. Nach dem Motto "Wonder Woman ist … psychologische Propaganda für den neuen Frauentyp, der meiner Ansicht nach die Welt beherrschen sollte" (Marston, im Jahr 1945), wurde diese Amazone "Wonder Woman" zur Triebfeder und Ikone der amerikanischen Frauenrechtsbewegung und ihres Kampfes gegen das Patriarchat. Es ist zugleich ein Lehrstück über die Wirkung der Pop-Kultur auf die Gesellschaften unserer Gegenwart. Zudem eine köstliche Lektüre.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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