Jürgen Kaube/André Kieserling: Die gespaltene Gesellschaft; Montage: rbbKultur
Bild: Verlag Rowohlt Berlin

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats November 2022

Angst, Spaltung der Gesellschaft und das Ende der gegenwärtigen Wirtschaftsform. Diese drei Stichworte spiegeln drei derjenigen Bücher, die im November auf unserer Liste stehen – ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren, präsentiert von rbbKultur.

"Eine Krise … ist im Allgemeinen ein Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System, dem eine massive und problematische Funktionsstörung über einen gewissen Zeitraum vorausging und der eher kürzer als länger andauert".

So definiert den Begriff bzw. Zustand Manfred G. Schmidt im "Wörterbuch zur Politik". Für Goethe war die Krise ein Übergang (er verstand sie als Zeichen von Krankheit) – und ohne große Phantasie lässt sich sagen, dass wir uns inmitten diverser Krisen befinden, die unsere Zeit zu einer des Übergangs machen.

Freilich weiß keiner so recht, wohin der Übergang führt: in die Klimakatastrophe, den Weltkrieg, die Überbevölkerung, zu autoritativen geführten Staaten. Das alles macht Angst, führt zu Spaltung der Gesellschaft, nimmt der gegenwärtigen Wirtschaftsform die Zukunft.

Diese drei Stichworte spiegeln drei derjenigen Bücher, die im November auf unserer Liste stehen. Zwei von ihnen, Jürgen Kaubes und André Kieserlings Studie über die "Gespaltene Gesellschaft" und Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys "Gekränkte Freiheit" arbeiten ähnliche Beobachtungen der Krisenerscheinungen auf. Nebeneinander gehalten erscheinen die Beobachtungen beider Autorenteams wie die zwei Seiten einer Medaille.

Tatsächlich unterscheiden sie sich in ihren Bewertungen aber erheblich: die "Gekränkte Freiheit" führt, mit Rückbesinnung auf Studien über den autoritären Charakter, zum "libertären Autoritarismus" mit fatalen Auswirkungen auf die Gesellschaft und ihren diversen Protestbewegungen oder doch Protesthaltungen wie Querdenken, Corona-Protest, regressiver Rebellion. Die andere konstatiert einen von den Krisen hervorgerufenen „intellektuellen Bürgerkrieg“ (S. 21), in dem wir uns befänden.

Kaube/Kieserling plädieren für eine differenzierte Haltung und Gelassenheit in dem Spannungsfeld zwischen Spaltungslust auf der einen und den 'normalen' Ausdifferenzierungskräften demokratischer Gesellschaften auf der anderen Seite. "Von einer politischen Spaltung ist das Land seit Jahrzehnten weit entfernt", stellen die Autoren fest. (S. 161) Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Konflikte der Gesellschaft gering geschätzt werden. Harmlos sind sie nämlich nicht.

Unvereinbar: Wachstum und Klimaschutz

Das zeigt auch Ulrike Herrmann in ihrem Buch über "Das Ende des Kapitalismus". Dies ist nämlich nach ihrer Einschätzung die radikale – und notwendige – Folge des Klimawandels. Die Autorin wehrt sich vehement gegen die Vorstellung, dass es einen "grünen" Kapitalismus geben könnte, der die Folgen des Klimawandels gewissermaßen wertschöpfend in Profit umwandeln könnte.

Tatsächlich macht sie – auch mit einem Rückblick auf die Anfänge der Industrialisierung in England und der Entwicklung des Kapitalismus – deutlich, dass Kapitalismus an sich ein Paradoxon ist, weil es gleichzeitig gewaltigen Gewinn (an wirtschaftlicher Kraft) und gewaltigen Verlust (an Gerechtigkeit) produziert.

Ihr Fazit: Wachstum und Klimaschutz sind nicht vereinbar, so steht es auch schon im Untertitel. Weil alle Wege der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaften nach ihrer Diagnose ins Aus führen, werden wir uns, so die Prognose, auf eine andere Gesellschaftsordnung verständigen müssen: "In jedem Fall wird der Kapitalismus untergehen und eine neue Wirtschaftsordnung entstehen. Sie ließe sich wohl am besten als 'Überlebenswirtschaft' bezeichnen, denn es geht um die Rettung der Menschheit." (S. 257)

Wie diese Wirtschaftsordnung tatsächlich aussehen könnte, bleibt leider ein Rätsel.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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