Jürgen Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik; Montage: rbbKultur
Bild: Suhrkamp Verlag

Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats Oktober 2022

Das wird ein schwergewichtiger Monat, jedenfalls, was unsere Sachbuch-Bestenliste anbetrifft: Die ersten Plätze sind mit harten Brocken besetzt – ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren, präsentiert von rbbKultur.

Die Wiederaufnahme der Fragen um den Strukturwandel der Öffentlichkeit, mit denen Jürgen Habermas 1962 seinen Siegenzug als der bedeutendste Soziologe seiner Zeit begann, war wohl lange zu erwarten gewesen und wohl auch unbedingt nötig. Dass sich nun aber auch noch die "Neubestimmung der Wissenschaft für das Anthropozän" (Untertitel) des Direktors am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Jürgen Renn, mit einem 1.000-Seiten-Buch unter dem Titel "Die Evolution des Wissens" eine Spitzenposition sichert, ist schon bemerkenswert.

Überhaupt steht, wie unsere aktuelle Liste zeigt, der Diskurs, die Problembestimmung, hoch im Kurs. Es gehören ja auch noch Oskar Negts Vorlesungen zur Politischen Philosophie des Gemeinsinns hinzu. Die Vorlesungen liegen viele Jahre zurück (70ger-Jahre) – und seither hat es gewaltige Veränderungen in der Welt gegeben. Und doch haben ihre Grundannahmen nichts von ihrer Relevanz verloren, weil sie allgemeingültige bzw. immer neu aktualisierte Strukturen herausarbeiten und damit erkennbar werden lassen.

Gefährliche Entwicklung

Also, Habermas an der Spitze. Denn "aus der Sicht der halb privaten, halb öffentlichen Kommunikationsräume, in denen sich heute die Nutzer sozialer Medien bewegen, verschwindet der inklusive Charakter einer bis dahin von der Privatsphäre erkennbar getrennten Öffentlichkeit" (S. 29). Durch die Digitalisierung der Medienwelt geht das ursprüngliche Ziel der medialen Öffentlichkeit, auf die Entscheidungen des politischen Systems insgesamt Einfluss mit aufklärerischer Qualität zu nehmen, verloren und vergrößert anti-demokratische Perspektiven hin zu einer, wie Habermas es nennt, "post-truth-democracy" (S. 51).

Dass diese Entwicklung gefährlich ist, sieht nicht nur Habermas so. Er stellt sie aber in den Rahmen der deliberalen Politik und zeigt damit die Grenzen und Aufgaben unserer Gesellschaft auf: "Darin besteht ja der Witz deliberativer Politik: dass wir in politischen Auseinandersetzungen unsere Überzeugungen verbessern und der richtigen Lösung von Problemen näher kommen können" (S. 25).

Wandel der Wissenstraditionen

Dazu ist, wir ahnen es, auch Wissen nötig, und dieses Wissen unterliegt, wie Jürgen Renn überdeutlich macht, einem historischen Prozess. Insofern kann er gut von der "Evolution des Wissens" sprechen. Dass sich Wissen vervielfältigt, mag noch eine Binsenweisheit sein. Aber dass wir es auch mit Transformationen ungeahnten Ausmaßes zu tun haben, wird erst während dieses Marsches durch die Spuren der Wissensgesellschaften erkennbar.

Auf diesem Weg geht viel von der "conditio humana" verloren, und wird durch eine Art Wissenswirtschaft verdrängt. Gleichzeitig vollzieht sich zudem ein Wandel von den ursprünglichen lokalen Kultur- und Wissenstraditionen mit ihren Sicherheit bietenden kulturellen Identifikationsformen hin zu einer global wirkenden, moralisch motivierten Weltanschauung mit darin eingeschlosser Kritik an der Autonomie spezifischer und eigenwilliger, oft traditioneller Vorstellungen (vgl. Renn S. 499).

Was wir brauchen ist eine "Werkstatt der Hoffnungen", um mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern das Überleben der Menschheit zu sichern – in dieser Größenordnung bewegt sich die Neubestimmung der Wissenschaft. Es ist viel zu tun.

Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992

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