
Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats September 2021
Wir präsentieren unsere zehn Sachbücher des Monats, ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren - mit dabei ein Buch über die aus dem Amt scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel, eines über das Älterwerden sowie mehrere Bücher, in denen es um die Krise der Demokratie geht und um Heilungsvorschläge.
Der Schreckensruf dieser Tage und Wochen lautet wohl: die Rache der Taliban. Vor dieser Rache fliehen Tausende, mit der Angst müssen Hunderttausende Afghanen leben. Wir verbinden mit Rache vor allem eins: gesetzloses, ungezügeltes, ein außerhalb unserer Zivilisation und Gesellschaft liegendes Verhalten, ein schlechthin Anderes. Auf unserer Liste steht nun ein Buch, das genau dieses andere, diesen "blinden Fleck der Moderne", untersucht. Es heißt schlicht Rache und ist nichts weniger als eine weitgespannte, höchst erhellende kulturhistorische Untersuchung über einen verdrängten Teil unserer Wirklichkeit, der "inkognito unseren eigenen Alltag" durchzieht (S. 322).
Lassen sich Werte auf andere Kulturen übertragen?
Dabei lernen wir, dass Rache etwas ist, das "durch die Etablierung des staatlichen Gewaltmonopols überhaupt erst hervorgebracht wird" (S. 323), und dass wir zu ihr "keinen neutralen Standpunkt" einnehmen können. Was hierzulande Rache ist, das ist andernorts vielleicht Teil der Rechtsauffassung.
Und daraus lernen wir: Es gibt keine universale Vernunft – und unsere Werte auf andere Kulturen zu übertragen, geht allzu oft schief, siehe eben Afghanistan und der Versuch, westliche Demokratie auf das Land zu übertragen. Zumal die Frage: "Welche Demokratie?" überhaupt nicht geklärt ist. Und noch weiter gefragt: Ist das, was wir Europäer und US-Amerikaner in Afghanistan etablieren wollten, überhaupt eine "echte" Demokratie?
Analyse und Vorschläge zur Krise der Demokratie
Zweifel sind erlaubt – und die Nummer eins unserer Liste bestätigt
diese Zweifel auf überzeugende Weise. Wolfgang Streeck, Soziologe und
Direktor emeritus am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in
Köln, zeigt uns, dass "die im politischen Patt des ausgehenden
Neoliberalismus stattfindende Auseinandersetzung über Wesen und Grenzen
der Demokratie … die Oberfläche eines Konflikts" (S. 40) ist, der zu einer dauerhaften Beschädigung der Demokratie führt. Streeck reiht sich mit
seiner Untersuchung in all jene Arbeiten ein, die die Krise der
Demokratie erkennen, sie analysieren und mit Heilungsvorschlägen
versehen.
Siehe dazu auch Byun-Chul Han über die Infokratie (in
unserer Liste die Nummer sieben). Streeck siedelt nun, anders als Han, der die
Digitalisierung für die Krise der Demokratie verantwortlich macht, seine
Kritik systematisch "Zwischen Globalisierung und Demokratie" an.
Mit seiner weit ausgreifenden Analyse der Zerstörungskraft des
Neoliberalismus und des uneffektiven Europas, diesem "Sehnsuchtsort ohne
Eigenschaften", wird er mancherlei Widerspruch ernten. Denn er scheut
sich nicht, auch über Zweck und Nutzen der Nationalstaatlichkeit
nachzudenken, was nicht jedem gefallen dürfte.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992