
Empfehlungen der unabhängigen Jury - Sachbücher des Monats September 2022
Als Deutschland 1945 in Trümmern lag, ging es den Juristen um die Aufrechterhaltung des "Dienstbetriebes" unter allen Umständen. Dem starrsinnigen Festhalten am System kann Autor Benjamin Lahusen sogar noch ironische Seiten abgewinnen: "Der Dienstbetrieb ist nicht gestört" – Platz 1 der zehn Sachbücher des Monats September, ausgewählt von 24 namhaften Jurorinnen und Juroren, präsentiert von rbbKultur.
Der Rückblick auf das katastrophal-chaotische Ende der jahrzehntelangen Intervention der USA und Europas in Afghanistan hat eine Fülle von Büchern hervorgebracht. Auf unserer September-Liste stehen allein zwei: "Afghanistan von innen" der Auslandskorrespondentin Antonia Rados, die darlegt, "Wie der Frieden verspielt wurde", so der Untertitel. Und "Am Ende der Straße" von Wolfgang Bauer, der in seinen Reportagen "Afghanistan zwischen Hoffnung und Scheitern" beschreibt und sich fragt, ob dieses Land in einer Schleife "des Schmerzes und des Elends, die sich ständig wiederholt" (S. 11) gefangen sei.
Die Jury überzeugt Bauers Buch u.a., weil er diese Frage zu beantworten versucht, indem er Reportagen aus den letzten 20 Jahren bis fast in die Gegenwart mit denselben Menschen nebeneinander stellt und uns miterleben lässt, dass sich deren Leben weder durch den europäisch-amerikanischen Eingriff noch durch die erneute Herrschaft der Taliban verbessert hat.
Die Herrschaft der Taliban nimmt er im übrigen als etwas Unheimliches wahr, denn das Emirat "funktioniert in seinem Inneren wie ein Geheimorden. Es ist unklar, wie Entscheidungen zustande kommen, wer welche warum trifft" (S. 197f.) – für die Menschen im Lande fatal. Bauers Fazit nach vielen Reportagereisen ins Land ist mehr als ernüchternd, es ist geradezu beschämend für den Westen.
"Der Dienstbetrieb ist nicht gestört"
Die Fähigkeit von Juristen, Sachverhalte und Verhaltensstrukturen in knappe, nüchterne und manchmal geradezu abstrus klingende Worte zu fassen, ist sprichwörtlich. Der französische Dramatiker Jean Giraudoux befand einmal, dass nie ein Dichter die Natur so frei ausgelegt habe, wie ein Jurist die Wirklichkeit. Für diese Beobachtung spricht auch der Titel des Buchs des Rechtshistorikers Benjamin Lahusen. Denn sonderbarer als mit der Formulierung "Der Dienstbetrieb ist nicht gestört" lässt sich wohl kaum das Vermögen deutscher Juristen benennen, am Bestehenden festzuhalten, obwohl die Welt drum herum zusammenbricht, wie dies 1945 mit dem Ende der Naziherrschaft und dem Ende des Krieges der Fall war – und fast so weiterzumachen, als wäre eben nichts geschehen.
Es ging um die Aufrechterhaltung des "Dienstbetriebes" unter allen Umständen – eine Stunde Null gab es nicht. Glänzend beschrieben hat uns Benjamin Lahusen diese Absonderlichkeit und hat, man soll's nicht glauben, dem starrsinnigen Festhalten am System noch ironische Seiten abgewonnen. Dabei ist sein zentraler Untersuchungsgegenstand die Frage, "warum es auch unter den Bedingungen des Jahres 1945 noch attraktiv war, Auseinandersetzungen in der Form des Rechts auszutragen" (S.30). Seine Antwort: Die berechenbare Normalität des Rechts bis 1945 im Alltag, und die "Wohlfahrt des Alltags" danach.
Bauer zitiert einen Satz aus dem Landrecht von 1629, in dem es heißt: "Wenn aber der Krieg/und das Sterben auffgehöret, so gehet die zeit wieder an" (S. 301), und das gilt eben auch für das Recht.
Simulacrum als Realsatire
Ein Simulacrum imitiert ein Objekt oder einen Zustand und bringt damit etwas zum Vorschein, das im Original unsichtbar oder unverständlich bleibt. So in aller Kürze die Definition einer Methode zur Aufdeckung von verborgenen Zusammenhängen. Und so dient auch "Das Russlandsimulakrum" der mittlerweile in Deutschland lebenden russischen Autorin und Grafikerin Irina Rastorgueva der Aufklärung.
Rastorguevas "Kleine Kulturgeschichte des politischen Protests in Russland" sammelt massenhaft solche Nachrichten und Informationen, die in Russland selbst verdeckt oder verschwiegen bleiben oder als so Vereinzelte erscheinen, dass sie gar nicht auffallen. In dieser Zusammenstellung jedoch entfalten sie eine bemerkenswerte Kraft des Widerstands gegen das Unrecht. Simulacrum als Realsatire, lesenswert in jedem Fall.
Andreas Wang, Herausgeber der "Sachbücher des Monats" seit 1992