Daniel Hope, Alexey Botvinov: Silvestrov © Deutsche Grammophon
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Album der Woche | 04.10. - 09.10.2022 - Daniel Hope u. Alexey Botvinov: "Silvestrov"

Daniel Hopes Wohnzimmer gehört nach unzähligen Onlinekonzerten wieder der Familie. Aufnahmen finden wieder in Studios statt und sein neues Album ist einem ukrainischen Komponisten gewidmet: Valentin Silvestrov, der am 30. September 85 Jahre alt geworden ist. Musik, die Hope und seinem Klavierpartner Alexey Botvinov sehr wichtig ist, wie Cornelia de Reese erfahren hat.

Die Musik von Valentin Silvestrov ist gefährlich. Gefährlich einschmeichelnd. Melancholisch nagt sie sich ins Ohr und lässt nicht mehr los. Dabei liegt diese Musik mit ihrer Schlichtheit im Trend.

Und schon erwischt man sich beim Aufschieben der Schublade mit dem Etikett "Neoklassik". Und genau da gehört diese Musik nicht hin, sagt Daniel Hope: "Es wäre falsch, das als Neoklassik 'abzustempeln'. Die Neoklassik hat von Komponisten wie ihm gelernt, hat seine Prinzipien angenommen. Aber bei Silvestrov steckt etwas anderes dahinter: Eine sehr lange, sehr komplexe Reise. Nicht nur, dass seine kompositorischen Fähigkeiten gestiegen sind, es war auch eine Reise durch sein Leben, das keineswegs einfach war. Er war immer eine Art Querulant in der Musiklandschaft der Sowjetunion."

Kiew - Berlin

Valentin Silvestrov stammt aus Kiew und ist erst vor wenigen Wochen, fast 85-jährig, nach Berlin geflohen. Bei einem Gedenkkonzert, bei dem Hope auch selbst spielte, stand er schließlich spontan auf der Bühne und sprach nach seiner Flucht zu Fuß verbittert und wütend über die Verhältnisse. Mitten in der Erregung setzte er sich ans Klavier. Alle im Saal erwarteten aggressive Akkordwellen. Doch, so berichtet Hope, "... dann kam aber eine Melodie - die könnte man fast als Parfüm beschreiben. Und es öffnete sich plötzlich eine Welt. Es war Erlösung durch die Musik."

Seinen 85. Geburtstag am 30. September musste Silvestrov in Berlin verbringen, in der neuen Umgebung, weit weg von seinem Kiewer Freundeskreis.

Klassikfestival in Odessa

Hope hat Silvestrovs Werke schon lange im Repertoire, initiiert auch durch seine regelmäßigen Konzertreisen nach Odessa, wohin ihn der Pianist Alexey Botvinov seit vielen Jahren eingeladen hat. Sofort verliebte sich Hope in diese Stadt, die "jede Geige kennt", so Hope, denn hier traten alle Größen auf, von hier aus wurde die russische Geigenschule geprägt.

Mit Botvinov exportierte Hope das Odessa-Klassikfestival in andere Länder, um die Reihe nicht abreißen zu lassen. Zudem stellte er mit Botvinov eine Playlist zusammen, deren Erlös an Hilfsorganisationen geht.

Farbpalette auf 88 Tasten

Diese Erfahrungen spiegeln sich auch in ihrem Zusammenspiel. Botvinov verfügt über ein ausgesprochen großes Klang- wie Farbspektrum im Spiel, das, so Hope, ihn immer wieder inspiriert. "Was er für Töne und Akkorde, gerade in der linken Hand, zaubert. Es ist unfassbar."

Die Aufnahmen waren für beide nicht leicht. Gerade für Botvinov, denn in jeder Spielpause erreichten ihn Nachrichten von Verwandten, die von den nächsten Überfällen berichteten, von den Verlusten. "Dann kam er zurück, wir mussten wieder aufnehmen. Und dann diese ruhigen Akkorde! Ich habe ihn sehr bewundert."

Das "Silvestrov"-Album hatte einen Ausgangspunkt: "Pastorales 2020", ein Werk, das der Komponist schon vor zwei Jahren zum Beethoven-Jahr für sie komponiert hatte, aber dann nicht zur Aufführung kam. Es bezieht er sich auf die 6. Sinfonie Beethovens. Gleich zu Beginn ist hörbar, wie Silvestrov arbeitet: Er nimmt sich einen einzigen Moment, ein Thema aus der ganzen Sinfonie, das er zitiert und dann entwickelt. Hope beschreibt es als eine Art Urknall: "Und dann sieht man, wie diese Materie quasi durch das Weltall fliegt."

Daniel Hope, Geiger © dpa
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Absolute Genauigkeit

Den Musikern fordert er dabei unbedingte Konzentration wie Präzision ab. Geiger und Pianist schickten ihm Probenaufnahmen und sofort kam ein zweiseitiger Brief mit Korrekturen zurück: Hier langsamer werden, hier mehr Markierung, hier mit längerem Bogen spielen. "Wir wurden bombardiert mit Informationen über eine Musik, die, wenn man sie nur auf dem Papier betrachtet, einfach aussieht. Aber es ist hochkomplex. Das ist etwas, woran wir wirklich arbeiten mussten, um uns frei zu fühlen bei so viel Exaktheit."

In der Enge die Freiheit aufspüren – exakter kann man das Lebensgefühl in sowjetisch-russischer Umklammerung nicht verkomponieren.

Dieser Kampf zwischen Komponisten oder Musikern und dem sowjetischen Regime ist nichts Neues - es geht sehr, sehr weit zurück.

Russische Tradition

Wer im ersten Moment irritiert ist und sich über die Hommage an Tschaikowsky oder Rachmaninov stört - russische Komponisten wollen alle drei nicht ausschließen, denn alle drei stehen in ihrer Tradition. "Abgesehen davon hat man in den Biografien von Rachmaninow eine klassische Exil-Person, die ebenfalls von einem Regime mehr oder weniger geflohen und nicht zurückgekehrt ist. Dieser Kampf zwischen Komponisten oder Musikern und dem sowjetischen Regime ist nichts Neues - es geht sehr, sehr weit zurück."

Fallen lassen in die Tiefe der einfachen Musik

Die schlichte Musik Silvestrovs hat ihre Tiefe, vor allem in dieser musikalischen Umsetzung. Sie rückt einem immer näher - gefährlich einfühlsam und dabei so unbestechlich.

Cornelia de Reese, rbbKultur