Infermi d'Amore: Lost in Venice © Eudora
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Album der Woche | 02.01. - 08.01.2023 - Infermi d'Amore: Lost in Venice

Vor drei Jahren hat der junge ukrainische Geiger Vadym Makarenko in Madrid Infermi d’Amore gegründet, ein international zusammengesetztes Barockensemble. Auf seiner energiegeladenen Debüt-CD "Lost in Venice" liefert es eine interessante Mischung von Werken aus dem Venedig des 18. Jahrhunderts, vor allem von Antonio Vivaldi. Der rote Faden besteht darin, dass die meisten der präsentierten Stücke teilweise verlorengegangen oder bislang übersehen worden waren.

Ich hörte die ersten Vögel singen – das war einer der schönsten Momente meines Lebens, es war wie eine Offenbarung!

Der Aspekt des Verlorenseins beschränkt sich jedoch nicht auf die Musik selbst. Vadym Makarenko fühlte sich als 19-Jähriger bei seiner ersten Auslandsreise so. Damals war er nach Mitternacht mittellos in Venedig gelandet und hatte sich auf einer Sitzbank niedergelassen. Aus dem bedrückten Dahindämmern wurde aber ein magisches Erlebnis, erzählt er:

"Ich hörte die ersten Vögel singen – das war einer der schönsten Momente meines Lebens, es war wie eine Offenbarung!"

In dem Gezwitscher habe er Vivaldis Musik gehört und verstanden, weshalb er solche Musik komponiert habe.

Rekonstruktionen

Da überrascht es nicht, dass Makarenko auf seiner ersten eigenen CD zu Vivaldi zurückkehrte. Allerdings wäre sie ohne den französischen Musikwissenschaftler Olivier Fourés nicht in der jetzigen Form möglich gewesen. Der Vivaldi-Spezialist überließ Makarenko mehrere Werke, die nur unvollständig erhalten sind und von ihm vervollständigt wurden. Zwei Stücke (RV 788 und 786) rekonstruierte er anhand der vorhandenen Bratschenstimme, beim Concerto RV 320 komponierte er den verlorenen Schlussteil neu hinzu und im Violinkonzert op. 1 Nr. 9 des aristokratischen Beamten und Komponisten Benedetto Marcello ergänzte er den fehlenden Solo-Part.

Erstaufnahmen

Bei den Einspielungen dieser Stücke handelt es sich ebenso um Erstaufnahmen wie bei Vivaldis Violinkonzert RV 182 und beim Finale des Konzerts RV 263 – es gibt aufgrund der Vielzahl an Konzerten, die der "rote Priester" geschaffen hat, immer noch einige, die bislang übergangen und noch nie aufgenommen wurden.

Vervollständigt wird das "Lost in Venice"-Programm mit Vivaldis Konzert für zwei Violinen, RV 521, mit der Amerikanerin Natalie Carducci als zweite Solistin, und mit der Ouvertüre Nr. 6 von Francesco Maria Veracini. Dieser wirkte vor allem in Florenz, Dresden und London, seine einfallsreichen Ouvertüren schrieb er jedoch in der Lagunenstadt.

Langer Weg

Bevor das Album fertiggestellt war, musste manche Hürde überwunden werden: "Ich hatte es mir einfacher vorgestellt“, räumt Vadym Makarenko heute ein.

Die Vorarbeiten stemmte er ganz alleine und benötigte in Pandemie-Zeiten dafür fast zwei Jahre – inklusive einer Crowdfunding-Kampagne für Teile der Finanzierung. Schließlich wurde für Januar 2022 ein Termin gefunden, an dem alle elf beteiligten Musikerinnen und Musiker Zeit hatten. Denn am wichtigsten an diesem Projekt waren für den Organisator die Menschen – die Freunde aus seinem Ensemble, die alle beim Debüt-Album dabei sein sollten.

Abgeschiedenheit

Zwei Wochen vor dem Aufnahmetermin kam dann der Schock: Der geplante Ort der Produktion fiel weg! Nur mit Mühe konnte man mitten in der Weihnachtszeit Ersatz finden: Eine kleine romanische Kirche in einem einsamen Bergdorf – etwas verloren fühlte sich das Ensemble dort, denn nicht einmal etwas zu frühstücken konnte man kaufen. Aber dennoch – und selbst wenn es in dem Kirchlein recht kühl war – machte Infermi d’Amore das Beste daraus.

Besondere Akustik

Wegen des kleinen Kirchenraumes unterscheidet sich die Akustik auf dem "Lost in Venice"-Album von der vieler anderer Vivaldi-Aufnahmen. Vadym Makarenko beschreibt sie so:

"Sie ist trocken und ein wenig dunkel – und man hört alles! Ich finde es besser so, als künstlich etwas Hall hinzuzufügen, damit es wie eine 'typische' Vivaldi-Aufnahme klingt. Mir gefällt, dass man dort keine Intonationseintrübung verstecken konnte, dass unsere Aufnahme also sehr ehrlich ist.“

Und zudem habe Vivaldi seine Konzerte sicherlich nicht immer in Räumen mit großem Hall aufgeführt, sondern auch in Operntheatern und Palais.

Mit Verve

Man merkt dem Album mit seiner "ehrlichen", aber keineswegs übermäßig trockenen Akustik an, wie sehr das Ensemble die venezianische Barockmusik schätzt. Die "Liebeskranken" – so heißt Infermi d’Amore auf Deutsch – legen sich mit zügigen Tempi und Verve ins Zeug. Ihr voller, robuster Streicherklang ist dabei eher zupackend und herb als auf Schönheit getrimmt oder gar lieblich. Neben Makarenko und Carducci taucht der Cellist Bruno Hurtado Gosálvez als Solist auf.

Video-Highlight

Die Zeit bei der Produktion von "Lost in Venice" reichte leider nicht aus, um wie vorgesehen die Sinfonia improvisata von Vivaldi einzuspielen. Und auch der Schlusssatz der Ouvertüre von Veracini ging bei den Aufnahmen irgendwie "verloren" – da wurde dann "Lost in Spain" daraus.

Auf dem Cover der CD ist ein Mann mit einem Notenblatt in der Hand abgebildet, doch er hat einen Hundekopf. Der stammt von demselben struppigen kleinen Mischling, der in einem sehr amüsanten Video von Infermi d’Amore auftaucht. Auf einer Parkbank sitzend, spielt Vadym Makarenko darin das Marcello-Konzert. Zugleich rennt er aber, in Doppelrolle, als Barockkomponist verkleidet hinter dem Hund her, der ihm sein Notenblatt entwendet hat.

Rainer Baumgärtner, rbbKultur