Album der Woche | 19.06. - 25.06.2023 - Martynas Levickis: "Autograph"
"Ich bin der Junge, der das Akkordeon vom Dachboden holt!", sagt Martynas Levickis mit einem Augenzwinkern über das etwas verstaubte Image seines Instruments. Jetzt hat der aus Litauen stammende Akkordeonist seine Debüt-CD "Autograph" veröffentlicht.
Obwohl das Akkordeon zu den jüngsten Mitgliedern der Instrumentenfamilie gehört, werden die meisten wohl eher an die Großeltern als an den Enkel denken. Martynas Levickis ist heute Anfang 30, aber schon mit 20 ist er in einer Talentshow im litauischen Fernsehen aufgetreten – und hat gewonnen. Noch immer erkennen ihn die Menschen in seiner Heimat auf der Straße und sprechen ihn an. Es sei ihm aber nie darum gegangen, ein Star zu werden.
"Ich wollte das Akkordeon populär machen und zeigen, dass das Instrument viele Gesichter hat", sagt Levickis. Denn kaum ein Instrument ist mit so vielen Klischees behaftet wie das Akkordeon, von unerträglich guter Laune bis rührselige Melancholie. Die meisten Vorurteile dürften das Instrument dabei mit Volksmusik in Zusammenhang bringen.

Litauische Volkslieder als Ausgangsmaterial
Genau damit hat Martynas Levickis allerdings kein Problem und für seine Debüt-CD "Autograph" fünf litauische Volkslieder eingespielt. Levickis steht zu seiner baltischen Herkunft und schlägt den Bogen zu seinem Geburtsjahr 1990, dem Jahr der "Singenden Revolution" , als Litauen unabhängig von der Sowjetunion wurde: "Die Volkstradition war uns immer wichtig, und ich denke, dass sie aufgrund der Unterdrückung noch wichtiger wurde, weil es während der Sowjetzeit verboten war, litauische Volkslieder zu singen."
Als Kind hat er deshalb viele litauische Volkslieder kennengelernt, die er nun für sein Album bearbeitet hat. Als Komponist möchte er sich deshalb aber nicht bezeichnen: "Ich habe die Volkslieder als Ausgangsmaterial verwendet, also stammen sie nicht von mir. Aber irgendwie stammen sie dann doch von mir, da sie aus meiner Kultur kommen und denselben Hintergrund wie ich haben."
Bach und Glass auf dem Akkordeon
Für sein Debüt-Album hat Martynas Levickis aber auch die komplette Französische Suite für Klavier in G-Dur von Johann Sebastian Bach eingespielt. Damit untergräbt er nicht nur das Vorurteil, dass das Akkordeon kein klassisches Instrument sein kann, sondern auch die weitverbreitete Vorstellung von Bach als einem allzu ernsten Komponisten: "Wenn ich die Französische Suite höre, muss ich an einen Geiger in einer Kneipe denken", sagt Levickis.
Zur Musik von Bach passte für ihn auch ein ganz anderer Komponist, der ihn schon fast sein ganzes Leben lang begleitet: "Schon als ich die Etüde Nr. 6 von Philip Glass zum ersten Mal gehört habe, wusste ich, dass ich sie auf dem Akkordeon spielen wollte." Wenn Martynas Levickis nun Glass’ Etüde Nr. 6 spielt, vergisst man schon fast, dass diese eigentlich für das Klavier geschrieben wurde, so organisch wirkt die Bearbeitung für das Akkordeon.
Nostalgie
Seit rund einem Jahr lebt Martynas Levickis nun in Berlin. Sein neues Zuhause sei zwar nicht gerade romantisch, Spuren der Vergangenheit findet er aber auch hier: "Selbst in einer Stadt wie Berlin, die so viele historische Veränderungen erlebt hat, können wir über den Ku’damm spazieren und noch heute die gleichen Bürgersteige wie in den 70er Jahren sehen", berichtet er. Natürlich vergisst Martynas Levickis seine Herkunft auch in Berlin nicht – und steht dazu, dass er ein Nostalgiker ist: "So manches Mal habe ich geglaubt, dass ich extrovertiert bin – und am besten die ganze Nostalgie vergesse. Aber tief in meinem Inneren bin ich sehr nostalgisch – und davor habe ich keine Angst."
Und so endet sein Album "Autograph" ebenso melancholisch, wie es begonnen hat – mit dem Stück "Nostalgie du pays" des lange in Frankreich lebenden Polen Miłosz Magin. Nostalgie, das ist Martynas Levickis wichtig, ist bei aller Volkstümlichkeit ebenso international wie sein Instrument, das Akkordeon.
Moritz Reininghaus, rbbKultur