Album der Woche | 05.09. - 11.09.2022 - Joseph Haydn: Sämtliche Klavierkonzerte
Wenn der Name Joseph Haydn fällt, dann denken viele Musikliebhaber:innen an seine Sinfonien oder die großen, späten Oratorien. Aber seine Klavierkonzerte haben die Wenigsten auf dem Schirm. Sie werden neben Mozart und Beethoven nicht wahrgenommen. Das hat Matthias Kirschnereit nun für sich geändert. Er hat alle Haydn-Konzerte gemeinsam mit dem Württembergischem Kammerorchester Heilbronn eingespielt.

Sind Haydns Klavierkonzerte langweilig? Fast erschrocken blickt Matthias Kirschnereit auf diese Frage und sagt dann fast ein wenig pikiert: "Nein." Und nach einer Pause setzt er nach: "Punkt!"
Er muss zwar zugeben, dass er sich erst einmal alle Partituren zulegen musste - die hatte er noch nicht im Notenschrank. Doch die Neugier hatte ihn nach seinen Einspielungen aller Mozart-Konzerte gepackt. So hat er die Noten gekauft, viel geübt, sich in die Musik verliebt und beschlossen, alle Konzerte einzuspielen.
Alle gültigen Konzerte
Von den elf bekannten Konzerten fehlen die Nummern 7 und 9. Kirschnereit sagt dazu: "Ich habe mich für diese Edition sehr eng mit dem Haydn-Institut Köln und dem Henle Verlag München verbandelt und bewusst nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand diejenigen unter den Konzerten für Tasteninstrumente und Orchester herausgepickt, die wirklich verbürgt von Joseph Haydn sind."
Das siebte Konzert hat sich als "Haydn-Fake" herausgestellt.
Abwechslung kalkuliert
Kirschnereit mischt auf seinem Doppelalbum die Konzerte wild durcheinander. Er startet mit Nummer 4 und endet mit Nummer 6. Musikalische Eigenmächtigkeit, so der Pianist, der damit eine gute "Playlist" erstellen will. Denn Haydn komponierte immerwährend in freundlich, ja schlichten Tonarten. Allein vier Konzerte in C-Dur. Auch wechseln die Orchesterbesetzungen in der Folge: mal ein kleiner begleitender Streicherapparat, mal ein größerer, mal mit Oboen oder Hörnern erweitert. Daraus wird mehr Farbigkeit hörbar, so der Pianist.
Musikalische Freiheiten im Sinne des Komponisten
Farbigkeit ist ein wichtiges Stichwort, um die Aufnahme zu beschreiben. Kirschnereit gelingt auch durch diesen Abfolge-Kniff eine große Lebendigkeit, vor allem durch sein unglaublich feines, agiles, fröhliches, unprätentiöses Spiel.
Zudem hat er sich etliche Freiheiten genommen: hat eigene Kadenzen kreiert, darin zitiert er auch andere Haydn-Klaviersolowerke, mal ergänzt er einen melodischen Schlenker oder eine Trillerkette und kleine Eingangspassagen improvisiert - immer im Sinne des Komponisten. Kurz: Kirschnereits Haydn atmet.
Haydn hinter der glatten Unterhaltung
Dabei legt er wie nebenbei emotionalen Stellen frei, die zeigen: Haydn ist weder langweilig noch beiläufig oder glatt. Im elften Konzert, das noch das bekannteste unter diesen "Klavier-Stiefkindern" ist, eröffnet sich im zweiten Satz plötzlich ein Graben, der sich nur bei Kirschnereit so radikal-existentiell zeigt. Plötzlich wird klar, warum sich Beethoven für diese Musik interessiert hat.
Auch Kirschnereit ist bekennender Fan: "Haydn war ein hochinteressanter Mensch. Und das sind ja die Menschen, die dann ihr Leben, ihre Gedanken in Töne codieren. Das kannst du natürlich nur, wenn du das kompositorische Handwerk beherrschst und wenn du etwas zu erzählen hast, wenn du wirklich auch Gedanken, die vielleicht Allgemeingültigkeit haben, in der Partitur niederschreiben kannst. Das ist das Spannende für uns auch im Jahr 2022: Dass uns diese Musik jetzt immer noch so anrührt und manchmal einen kalten Schauer hervorruft - oder uns zu Tränen rührt."

Entscheidung für das Chamäleon
Kirschnereit hat sich für seine Aufnahmen für einen modernen Flügel entschieden. Der sei ein musikalisches Chamäleon, das viele Farben wiedergeben könne. Ein Wechsel von Cembalo auf die Orgel oder den Hammerflügel sei also nicht notwendig. Eine gute Entscheidung für das heutige Hören.
Zudem hat Kirschnereit hat die Leitung des Württembergischen Kammerorchesters Heilbronn übernommen. Eine Herausforderung für ihn, anfänglich. Doch so konnte er persönlich jedem Orchestermitglied mitteilen, wie er welche Phrase ausdeuten möchte. Absolut lohnend, denn hier ist ein unbedingter Zusammenklang entstanden: Gemeinsames Atmen – mit Haydn und für Haydn.
Cornelia de Reese, rbbKultur