Album der Woche | 16.01. - 22.01.2023 - Neujahrskonzert 2023 der Wiener Philharmoniker
Was wäre der Klassikbetrieb ohne Rituale? Eines der wichtigsten ist das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker im Goldenen Saal des Musikvereins der österreichischen Hauptstadt. Skeptisch mag man einwenden, dass das doch jedes Jahr das selbe Spektakel sei. Dem widerspricht unser Kritiker Claus Fischer ganz entschieden - mit Blick auf das diesjährige Neujahrskonzert, das der österreichische Dirigent Franz Welser-Möst geleitet hat.
"Wer tanzt mit?" - Schon dieses erste Werk im Programm des diesjährigen Neujahrskonzerts - eine Schnellpolka von Eduard Strauß – war eine Überraschung fürs Publikum! Selbst eingefleischten Fans des Neujahrskonzerts dürfte sie bis zum 1. Januar noch nicht bekannt gewesen sein, betont Dirigent Franz Welser-Möst - und das meiste, was danach folgte, auch nicht.

Ein Programm voller Überraschungen
"Das sind alles Stücke, die noch nie gespielt worden sind beim Neujahrskonzert! Es ist ja – man glaubt es gar nicht – bis jetzt in den Neujahrskonzerten erst 30 Prozent aller Stücke der Strauß-Familie gespielt worden! Da gibt es irrsinnig viele Schätze noch zu heben!"
Franz Welser-Mösts Lockdown-Beschäftigung? Musik-Archäologie in Sachen Strauß-Dynastie:
"Ich hatte mir aus einer Laune heraus vor fünf Jahren alles gekauft, was es im Druck gibt von Johann, Josef Strauß und Josef Lanner“, erzählt Franz Welser-Möst. "Und als dann die Anfrage von den Philharmonikern kam, ob ich zum dritten Mal das Neujahrskonzert dirigieren möchte, kam dann auch die Pandemie ... Ich habe sehr viel Zeit zuhause verbracht und habe mich also durch diese Laufmeter – das sind wirklich einige Meter in meiner Bibliothek! – durchgeschmökert."
Das vergessene Genie der Dynastie: Josef Strauß
Das Ergebnis der Lockdown-Tätigkeit von Franz Welser-Möst war ein Programm, wie man es sich schon früher beim Neujahrskonzert gewünscht hätte. Immer deutlicher kristallisierte sich im Verlauf der Mann aus der Strauß-Dynastie als Star heraus, der bislang am wenigsten beachtet wurde: Josef. Der war zunächst aus der Art geschlagen, verdiente sein Geld als Ingenieur, konstruierte u.a. eine Straßenkehrmaschine, die jedoch nie gebaut wurde. Irgendwann, so Franz Welser-Möst holte ihn die Familientradition aber wieder ein:
"Johann Strauß hat über seinen Bruder gesagt: Ich bin zwar der Prominentere, aber er ist der Begabtere. Und ich würde sagen: er ist auch der Sensiblere! Da ist ein Walzer schöner als der andere!“
Die spannendste Entdeckung im Programm ist der Walzer "Perlen der Liebe". Komponiert hat ihn Josef Strauß als Verlobungsgeschenk für seine große Liebe Karoline Bruckmaier, die er geheiratet hat - und zwar einen Monat, nachdem er uraufgeführt wurde.
Vorbild Richard Wagner
Josef Strauß gilt als der Erfinder des Konzertwalzers, also des Walzers mit einer opulenten sinfonischen Einleitung. Ein Vorbild war für ihn hier besonders prägend, erzählt Dirigent Franz Welser-Möst:
"Er war ein großer Anhänger von Richard Wagner. Das sind alles so kleine Informationen, die dann mehr und mehr ein Bild ergeben, wie man an dieses oder jenes Stück herangehen könnte."
Neue Lockerheit oder "Die Musik vom Tanz her denken"
Franz Welser-Möst – gebürtiger Wiener, aber im Hauptberuf seit vielen Jahren Chefdirigent des Cleveland Orchestra in den USA - hat das Neujahrskonzert bereits zum dritten Mal geleitet. 2011 und 2013 waren die Kritiken eher verhalten. So hat man seinen korrekten Dirigierstil als technokratisch bezeichnet und behauptet, dass ihm das Gefühl für dieses spezielle Repertoire fehle. In diesem Jahr war das allerdings völlig anders – das zeigte das geradezu enthusiastisch applaudierende Publikum.

War diese neue Lockerheit das Resultat von Lernfähigkeit? Oder einfach nur ein Besinnen auf die eigenen Wurzeln? Die Erkenntnis von Franz Welser-Möst: Die Musik vom Tanz her denken:
"Wenn Sie einen Walzer tanzen: Der zweite Schritt, da schleifen Sie den Fuß ja so a bisserl am Boden. Und genau so muss man das spielen, da geht’s um ein Lebensgefühl, da geht’s nicht um eine mathematische Präzision!“
Erstmals dabei: Die "Wiener Chormädchen"
Das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker 2023 enthielt neben den musikalischen Entdeckungen und den beliebten Standards wie dem Donauwalzer auch eine besondere Premiere: Erstmals standen neben den Wiener Sängerknaben auch die "Wiener Chormädchen" auf der Bühne. Ein weiteres Zeichen dafür, dass die Tradition allmählich entstaubt wird. Bis allerdings eine Frau am Dirigentenpult steht, dürften noch einiges an Wasser die Donau hinabfließen …
Claus Fischer, rbbKultur