
Musik aus der Zeit von 1933 bis 1945 - "Lebensmelodien" erinnern an den Holocaust
Musik kann Vieles. Sie kann trösten, Mut machen, Halt geben. Der Klarinettist Nur Ben Shalom hat Werke gesucht, die in der Zeit von 1933 bis 1945 komponiert, gesungen oder aufgeführt worden sind. In den kommenden zwei Jahren will er diese Musik gemeinsam mit seinen Nimrod Ensemble aufführen. Christine Thalmann hat Nur Ben Shalom getroffen.
Wir treffen Nur Ben Shalom in Schöneberg, hier lebt er seit 12 Jahren. Aus Tel Aviv ist er nach Berlin gekommen, um an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Klarinette zu studieren. “Ich kam wegen der guten klassischen Ausbildung, den vielen wunderbaren klassischen Konzerten und den Chancen, die Berlin jungen Studenten bietet”, erzählt er. Nur Ben Shalom ist geblieben. Mittlerweile hat er sein eigenes Ensemble, das Nimrod Ensemble, gemeinsam mit dem Violinisten Christophe Horak, der Bratschistin Francesca Zappa und dem Pianisten Yannik van de Velde gegründet.
In Berlin ist Geschichte überall gegenwärtig
In Berlin, so sagt er, sei Geschichte überall gegenwärtig: “An jedem Ort in Berlin bist Du konfrontiert mit dem jüdischen Leben, das hier vor dem Krieg existierte und das es nun nicht mehr gibt”. Er führt uns zu der ehemaligen Synagoge, in der Münchener Straße, in Berlin Schöneberg. Ein Gedenkstein erinnert an den Ort und die Menschen, die von hier aus während des Holocausts erst in ein Sammellager und später in die Konzentrationslager deportiert worden sind.
Immer am 9. November kommt er hierher. Manchmal spielt er Klarinette, um der Ermordeten zu gedenken. Hinter der Synagoge ist eine Schule, auf dem Hof spielen Kinder. Für ihn ist es ein spezieller Ort, ein Platz, an dem sich das, was war und das, was zukünftig sein kann, verbinden. Ben Nur Schalom weist auf die Kinder. Sie seien doch die Zukunft. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind für ihn an diesem Ort beieinander. Am Ende geht es immer um die Frage nach der Menschlichkeit.
Jede Melodie erinnert an bestimmte Menschen
Mit seinen Lebensmelodien, der Musik, die zwischen 1933 und 1945 gespielt, gesungen oder komponiert worden ist, will er an die Ermordung der Juden erinnern. Wenn er diese Musik gemeinsam mit seinem Nimrod Ensemble wieder aufführt, dann erinnert er auch an die Menschen, denen diese Musik einst Kraft, Trost oder Hoffnung schenkte.
Per Zufall ist er auf die Idee gekommen. In einer Zeitung hat er einen Artikel über zwei Freunde gelesen: Shmuel Blasz und Shmuel Lazarovich wurden zusammen in ein ungarisches Arbeitslager geschickt. Shmuel Blasz war Musiker und hat im Arbeitslager seinem Freund eigene Kompositionen vorgesummt. Shmuel Lazarovich bat ihn, diese Melodien aufzuschreiben. Irgendwoher haben sie ein Stück Papier bekommen. Shmuel Blasz wird später in Auschwitz ermordet, seinem Freund gelingt es, seine Kompositionen zu retten.
Heute liegt das Notenblatt im Nationalarchiv in Israel, dort hat Nur Ben Shalom es gefunden. Diese Komposition gehört zu den zehn Werken, die Nur Ben Shalom gemeinsam mit seinem Nimrod Ensemble in der Reihe “Lebensmelodien” spielt. Jede Melodie, Lebensmelodie, wie Nur Ben Shalom sie nennt, hat eine Geschichte. Sie handelt von einer Person, einer Familie oder einer jüdischen Gemeinde.
Musik gibt Kraft, bietet Halt und macht Mut
Eine Melodie erinnert an die jüdische Gemeinde in Wischnitz in der damaligen Bukovina. Die Gemeinde war berühmt für ihre Kompositionen. Die Musik war Teil des Lebens, sie ist es selbst noch in dem Moment gewesen, als die Familien nach Auschwitz deportiert wurden. Überlebende erzählen, dass sie ihre Musik gemeinsam angestimmt hätten. Für ein paar Minuten konnten sie so an einen anderen Ort flüchten.
"Ich denke, wenn Menschen diese Melodien gesungen haben, haben sie nach Kraft gesucht. Sie haben nach etwas gesucht, das ihnen Halt gibt. Und diese Musik, diese Stücke gaben ihnen eine Art Kraft“, sagt Nur Ben Shalom. Mehr als 300 Werke von rund 50 Komponisten hat er weltweit in Archiven recherchiert. In den kommenden zwei Jahren will er sie mit den Musikern seines Nimrod Ensembles aufführen.

Nur Ben Shalom kommt selbst aus einer Familie von Holocaust Überlebenden
Wenn Nur Ben Shalom durch sein Berlin geht, dann fragt er sich manchmal, was sein Großvater dazu sagen würde: "Die Erinnerungen an den Holocuast waren in meiner Kindheit, in meinem Zuhause ein großes Thema”. Sein Großvater hat als Einziger einer großen österreichischen Familie den Holocaust überlebt. Als Jugendlicher hat er sich neun Monate lang in einem Erdloch versteckt. Nur Shalom hat den Großvater, der später nach Israel ausgewandert und Architekt geworden ist, nicht mehr kennengelernt. Er ist ein Jahr alt, als sein Großvater stirbt: “Ich glaube, ich hoffe, dass er es gut findet, dass ich jetzt hier in Berlin bin und die Lebensmelodien aufführe.”
Die Schwester seines Großvaters, Salomea Ochs Luft, hat einen Brief an ihre Familie geschrieben, kurz bevor sie ermordet wurde. Zwölf Seiten ist er lang. “Meine Teuren” schreibt sie. Obwohl sie weiß, dass es eigentlich unmöglich ist, all “die Greuel und Qualen” zu schildern, versucht sie zu erzählen, wie es ihr und ihrer Familie ergangen ist. “Keine Feder wird imstande sein, die Tragödie unseres Volkes auf diesem blutüberschwemmten Boden darzustellen. Diese Leiden, diese unerhört raffinierte, bestiale Art Menschen zu schikanieren, zu hetzen, jagen, erniedrigen und zu guter letzt zu ermorden”, heißt es in dem Brief. Den Brief verfasst Salomea 1943. Sie sei eine mutige Frau gewesen. Sie liebte es, Klavier zu spielen, hatte gerade erst geheiratet. Am Ende ihres Briefes schreibt sie: “Es ist nicht leicht, Abschied für immer zu nehmen, aber wir gehen schon lachend in den Tod. Lebet wohl, lasset es Euch recht gehen und wenn ihr könnt, dann nehmt einst RACHE!”.
Lebensmelodien auch eine Familiengeschichte
Nur Ben Shalom ist mit diesem Brief aufgewachsen. Er war “Teil der Familie, ein sehr wertvoller Teil”. Oft habe er ihn gelesen und sich immer wieder gefragt, was ist Rache? “Wir können ihr nicht die Rache geben, die sie wollte. Aber vielleicht ist das, was ich hier mache oder vielleicht die Tatsache, dass ich hier in Deutschland, in Berlin lebe und mich mit klassischer Musik und jüdischer Musik dieser Zeit beschäftige. Vielleicht könnte das eine Umwandlung der Rache sein“, sagt er. Auch sieht er sein Projekt "Lebensmelodien" als ein Statement. Salomea habe ihren Brief aus der Hölle geschrieben, andere Musiker komponierten Stücke in der Hölle, „indem wir die Musik aufführen, eröffnen wir auch einen kulturellen Diskurs“, hofft Nur Ben Shalom.
Musik zum Gedenken an den 9. November 1938 als Live-Stream
Noch in der vergangenen Woche haben Nur Ben Shalom und die Musiker des Nimrod Ensembles zusammen in der evangelischen Apostel Paulus Kirche in Berlin Schöneberg geprobt. Doch wegen Corona und dem Teil-Lockdown muss das für den 8. November geplante "Lebensmelodien"-Konzert als Präsenzveranstaltung leider verschoben werden.
Die Familien der Überlebenden, die dazu anreisen wollten, können nun auf der ganzen Welt aufgrund der Livestream-Übertragung des rbb bei der Gedenkveranstaltung zumindest virtuell dabei sein – zehn Kompositionen, Lebensmelodien, die von Menschen und ihren Hoffnungen, ihrem Glauben, ihrem Schicksal erzählen. Nur Ben Schalom hofft darauf, dass so die Erinnerung bewahrt wird: “Und dann ist da die Frage, was machen die Menschen mit diesen Melodien nach dem Konzert? Was machen die Musiker oder das Publikum, das dieses Konzert gehört hat - vielleicht sagen sie ja: Oh, ich liebe diese Melodie! Ich würde sie gerne in meiner Klasse unterrichten. Oder ich möchte sie meinen Kindern zuhause vorspielen und ihnen die Geschichte der Menschen dahinter erzählen, das wäre wunderbar - so geht die Erinnerung weiter."
Christine Thalmann, rbbKultur