
Online-Festival "Die Goldenen Zwanziger" - Berliner Philharmoniker: Christian Thielemann dirigiert Hindemith, Busoni und Strauss
Wenn Christian Thielemann Musik der "Goldenen Zwanziger" dirigiert, bedeutet das bei ihm: Nachklänge schönster Spätromantik – egal, was auf dem Pult liegt. Zurücklehnen auf höchstem Niveau.
Aufregung kurz zuvor: Diana Damrau kann aufgrund der derzeitigen Corona-Regelungen nicht auftreten – Camilla Nylund springt ein. Gerade noch war sie in Leoš Janáčeks "Jenůfa" in der Titelrolle zu erleben – das klang schon eher nach Richard Strauss – da sind Strauss‘ Orchesterlieder bei ihr genau richtig.
Camilla Nylund macht in ihrer Interpretation aus dem Großen Saal der Philharmonie ein intimes Wohnzimmer, in dem man sich behaglich zurücklehnen kann. Sie scheint gerade einmal einen halben Meter entfernt zu sein, schreit nie, sondern scheint einfach nur Lieder zu singen. Man hat das Gefühlt, als wenn man bei einem Glas Rotwein zusammensitzt. Große Kunst.
Hängematte
Christian Thielemann ist seit Jahrzehnten einer der besten Sängerbegleiter überhaupt. Auf der von ihm daruntergelegten Orchesterhängematte kann sich Camilla Nylund bequem ausbreiten. Kammermusikalisch durchhörbar ist das Orchester hier, selbst in den kräftigeren Momenten voller wunderbarer Details, ohne dass jemals die Sängerin übertönt würde.
Dass Camilla Nylund so entspannt gestalten konnte, ist der Tatsache zu verdanken, dass Christian Thielemann ihr das Orchester zu Füßen legt. Was kann einer Sängerin Besseres passieren als ein Dirigent, der sie gewissermaßen auf Händen trägt.
(Keine) Zeitstücke
Christian Thielemann hat bekanntermaßen seinen eigenen Kopf. Da kann – passend zum Festivalmotto der "Goldenen Zwanziger" – Paul Hindemiths Ouvertüre zur Oper "Neues vom Tage" auf dem Programm stehen. Frech, unverschämt, zeitverhaftet – hier klingt es eher wie später Hindemith: gut abgehangen, angedickt mit philharmonischer Sahnesoße.
Ebenso Ferruccio Busonis "Tanzwalzer", eigentlich ein Abgesang auf den Wiener Walzer. Bei Thielemann ist die gute alte Zeit nicht vorbei. Da fühlt man sich in den Goldenen Saal des Wiener Musikvereins versetzt. Und da passt auch der "Künstlerleben"-Walzer von Johann Strauß perfekt im Anschluss. Es ist wie am 1. Januar: Wiener Neujahrskonzert, und die Welt ist in Ordnung.
Endlich mal wieder Chor
Die "Tageszeiten" von Richard Strauss wirken wie aus der Zeit gefallen: spätromantische Melancholie zu einer Zeit, in der das eigentlich längst durch ist. Aber: egal. Denn mal hört endlich mal wieder Chor. Zwar nur die Männerstimmen, und das in XXL-Abstand hinter dem Podium in den Zuschauerrängen.
Aber dass das überhaupt geht: Chorgesang, und dann vom wunderbaren Rundfunkchor Berlin. Und nebenbei genau das Repertoire, das Christian Thielemann am besten liegt. Ein Schaumbad der Gefühle, Klänge auf höchstem Niveau. Also: nicht meckern, einfach nur genießen.
Andreas Göbel, rbbKultur