Philharmonie Berlin - Die Berliner Philharmoniker unter François-Xavier Roth
Das hätte ein "normaler" Abend werden können. Aber François-Xavier Roth durchleuchtet Strawinsky, und Albrecht Mayer kämpft mit den Tücken seines Instruments – alles mit erstaunlichen Erkenntnissen.
Bei allem stehen natürlich die Gedanken an die derzeitige Situation im Vordergrund, auch an diesem Abend. Die Berliner Philharmoniker sind seit Herbst vergangenen Jahres Botschafter der UNO-Flüchtlingshilfe, und im Rahmen dieser Partnerschaft gab es einen Aufruf zu Spenden für die Ukraine. Der Solo-Oboist der Berliner Philharmoniker Albrecht Mayer widmete dann auch seine Zugabe den Menschen, die "unsere ganze Kraft und unsere Gebete brauchen".
Partituren mit Röntgenstrahlen
François-Xavier Roth ist ein sehr vielseitiger Dirigent – aber auch mit großer Neigung zur zeitgenössischen Musik. Einige Jahre hat er in Donaueschingen erfolgreich Uraufführungen dirigiert. Er ist jemand, der Partituren durchleuchten kann. Da gab es bei Igor Strawinsky auch nicht den sinfonischen Wohlfühlklang, sondern mit Röntgenstrahlen durchleuchtete Partituren.
Das kommt Strawinskys Divertimento-Fassung aus dem Ballett "Der Kuss der Fee" sehr zugute. Das ist, auf der Basis von weniger bekannten Klavierstücken und Liedern von Peter Tschaikowsky, durch den Fleischwolf gedrehte Musik, nicht gerade Strawinskys inspirierteste Partitur – nette Seifenblasen mit nichts dahinter, eine ziemlich langweilige Musik. Roth gelingt es jedoch, das alles exquisit, mit scheinbarer Eleganz und tänzerisch aufzubereiten. Und dann kommt da doch noch die Faust aus dem Kaffee, und man merkt: da ist nichts entkoffeiniert. Das hat Spaß gemacht.
Seziertes Panorama
Kein Wunder, dass François-Xavier Roth mit Strawinskys "Petruschka" eigene Akzente setzen konnte. Man hört dieses Ballett allzu oft, und dann meist kulinarisch, rhythmisch impulsiv, aber allzu gleichförmig. Roth dagegen nimmt die Geschichte ernst, die auf einem Rummelplatz, einem Jahrmarkt spielt. Da tönen ständig andere Musikfetzen ans Ohr und aus allen Richtungen.
Das ist wie ein Hörfilm: mal harte Schnitte, dann wieder Überblendungen, mal der Blick auf das Ganze, dann eine intime Nahaufnahme. Roth hat keine Angst, dass es zu banal klingen könnte – das muss es ja sogar! Das ist geräuschhaft, unterhaltsam, auch mal schmutzig. Hat man das je so scharf seziert und analysiert gehört?! Ein grandioses Panorama und eine erhellende Aufführung auf höchstem Niveau.
Die tiefe Oboe
Johann Sebastian Bach hat kein Oboenkonzert geschrieben. Jedenfalls ist keines von ihm überliefert. Das ist ein Unterschied. Denn das Cembalokonzert BWV 1055 könnte theoretisch im Original ein Oboenkonzert sein. Eine solche Rekonstruktion ist möglich und überzeugt. Auch eine Version für die tiefere Oboe d’amore – warum nicht. Albrecht Mayer kennt das in- und auswendig. Da steht in Notenständer, aber den braucht er eigentlich nicht. Und wie es manchmal bei diesem Instrument sein kann – da sammelt sich Wasser, und er muss den langsamen Satz neu ansetzen und anschließend von der Bühne, um alles auszuputzen.
Magischer Ton
Das alles hätte manch anderen aus der Bahn geworfen – Albrecht Mayer kann damit locker umgehen. Und im letzten Satz des Bach-Konzerts spielt er so frei und beschwingt auf – was soll’s. Bei seiner Zugabe – der Oboenfassung von Händels "Lascia ch’io pianga" – ist er wieder ganz bei sich. Vielleicht hätte er nicht allzusehr auf der Bühne auf- und abstolzieren müssen. Aber in Erinnerung bleibt der magische, intensiver Ton auf diesem wunderbaren Instrument.
Andreas Göbel, rbbKultur