Komische Oper Berlin - "Intolleranza 1960"
Die große Frage, was uns ein Werk zu sagen hat, dem seine Entstehungszeit (1960) so sehr eingeschrieben ist, wird von der Jubiläumsproduktion zur 75. Spielzeit der Komischen Oper – und zum Beginn der neuen Intendanz von Susanne Moser und Philip Bröking – handstreichartig hinweggefegt. Gilt’s hier dem Aufwand? Sogar dem Spektakel?! Anhaltende Ovationen quittieren das Fanal dieser Debüt-Oper von Luigi Nono bei seiner Berliner Premiere.

Spektakulär ist schon die Drehung des Zuschauerraumes um 180 Grad. Nicht nur, dass Teile des Publikums auf der Bühne sitzen. Das ganze Parkett ist von einer riesigen, wattig-filzigen Eiswüste überbaut – mit Gletscherspalte und Eisbad, welches man aufhacken kann und in dem sich Tom Erik Lie den Frostbrand holt. Dirigent Gabriel Feltz thront in luftiger Höhe, sein Orchester im Rücken, auf einem frei schwebenden Balkon vorm zweiten Rang. Die stuckierten Balustraden sind verhüllt, als sei Christo am Werk gewesen. Das Haus, mit anderen Worten, befindet sich in einem Zustand innerer Verpuppung. Und fasst trotzdem 920 Zuschauer:innen - fast so viel wie sonst.
Die wenigen leisen sind die intensivsten Momente des Abends
Bei "Intolleranza 1960" handelt es sich um eine plakative, brechtische und "agitpropige" Szenenfolge. Ein Gastarbeiter will zurück ins eigene Land. Gefangene versuchen dem KZ zu entkommen. Es gibt Polizeiübergriffe, Folter, am Ende eine Sintflut als Bild politischer Ignoranz, Verfolgung und Gewalt. Von Regisseur Marco Štorman wird das Lehrstück eher in ein beckettsches Spiel der Schemen, der OP-weißen Wickelhosen und symbolhaft gereckten Arme verwandelt. Ein Endspiel. Wobei der aus Bohlen wieder zusammengesetzte Schiffsrumpf am Ende für Aufbruch steht - Delacroix’ "Die Freiheit führt das Volk" zitierend.

Aktualität stiften soll ein neuer Text von Carolin Emcke. Sie beklagt Flüchtlingselend und fehlende Empathie – und stellt so wirklich einen Gegenwartsbezug her. Ein poetischer Text war davon kaum zu erwarten. Die Schauspielerin Ilse Ritter indes sorgt staunenswert für einen der wenigen leisen, dabei intensivsten Momente des Abends. An dem geht es sonst recht laut zu. Nono dachte musikalisch vom Raum her, weshalb das "Orchester von oben" angebracht erscheint. Ich habe das Stück dennoch leiser, weniger propagandistisch in Erinnerung.
Irrwitz der Transformation und politischen Theatralik
Eigentlich ist das eine Choroper, als solche wird sie vom (Bewegungs-)Chor der Komischen Oper souverän umgesetzt. Sean Panikkar singt die heimatlos zwischen Tenor und Countertenor irrlichteden Hauptrolle sehr schön. Das Intoleranzverdikt des Werkes dürfte heute eher dem offiziellen Konsens entsprechen. Umso unklarer, was uns das Werk Neues zu sagen hat. Am besten ist die Aufführung im Irrwitz der Transformation und politischen Theatralik.
Das Haus erzittert. Ein Anfang, zweifellos ein starker, ist gemacht.
Kai Luehrs-Kaiser, rbbKultur