Philharmonie Berlin - François-Xavier Roth dirigiert die Berliner Philharmoniker
Hitverdächtiges und Raritäten – François-Xavier Roth, inzwischen gerne gesehener Gastdirigent der Berliner Philharmoniker, kombiniert Etabliertes und Vergessenes, interpretiert auf höchstem Niveau.
Man kann es im Programmheft nachlesen: Paul Dukas‘ Ouvertüre "Polyeucte" haben die Berliner Philharmoniker in ihrer langen Geschichte noch nie gespielt. Der Komponist hat sich von einer Tragödie aus dem 17. Jahrhundert anregen lassen. Pierre Corneille schildert die Geschichte einer armenischen Adligen, die zwischen weltlicher Liebe und göttlichem Auftrag hin- und hergerissen ist und dann einen christlichen Märtyrertod stirbt.
Heftiger Stoff, und entsprechend pathetisch aufgedonnert gibt sich das Stück über weite Strecken. Das ist nur deswegen erträglich, weil François-Xavier Roth das mit den Berliner Philharmonikern messerscharf umsetzt. Eine großartige Aufführung eines Werkes, das getrost in die Kategorie "zu Recht vergessen" gehört.
Sterneküche
Wer Béla Bartóks großes zweites Violinkonzert auf das Programm setzt, muss um die Sache wissen. Isabelle Faust hat alles für dieses fast vierzigminütige Marathonstück. Sie hat einen großen Bogen für die endlosen Melodien, Kraft und Virtuosität, Ausdauer ohnehin. Aber sie hat noch mehr: einen exquisiten Geigenton. Das ist absolute Sterneküche.
Und sie hat keine Probleme, dem Werk zu Leibe zu rücken: pastellfarbene Sphärenklänge neben verdichteter Sahne, aber als Kontrast auch reichlich Paprika, wo es nötig ist. Das ist ein Eindringen ist die Musik voller Überlegenheit und Verstehen, dabei scheinbar unberechenbar, elektrisierend und sprudelnd. Eine bessere Anwältin hätte dieses anspruchsvolle Werk nicht bekommen können.
Stücke, die die Welt nicht braucht
Manchmal muss man einfach Glück haben: Weil die Sopranistin Julie Fuchs krankheitsbedingt absagen musste, sprang in Claude Debussys Kantate "La Damoiselle élue" Anna Prohaska ein. Sie kennt das Werk, hat es vor einigen Jahren schon mal mit der Staatskapelle unter Daniel Barenboim gesungen.
Allerdings: wozu? Das ist ein frühes Werk von Debussy, in dem sich eine verstorbene junge Frau im Jenseits nach ihrem Geliebten sehnt. Musikalisch gibt es ein paar hübsche Farbtupfer, aber alles ohne jegliche Substanz, ein Hauch von Nichts. Anna Prohaska hat das zauberhaft ausgeleuchtet, die Frauenstimmen des Rundfunkchors haben geschmackvoll Atmosphäre geschaffen, aber das war alles trotzdem Zuckerguss ohne Basis. Das war nicht zu retten – diese Kantate gehört in die Sammlung "Stücke, die die Welt nicht braucht".

Gaudi mit Kontrafagott
Hitverdächtig ist Paul Dukas‘ einziges bekanntes Stück "Der Zauberlehrling" nach Goethes Ballade schon. Allerdings auch gefährlich. Wie oft hat man das schon langweilig und tranig gehört. Es ist ja auch so berechenbar: da sind die magischen Klänge, da ist der Besen (oder dann die zwei Besen), der rumpelig den Wassereimer schleppt. Und es wird halt immer gewaltiger, wenn das ganze Haus unter Wasser gesetzt wird.
Glücklicherweise verfügt François-Xavier Roth über genügend Witz und Ironie, um das richtig auszukosten. Bevor der bzw. die Besen loslaufen, darf es im Kontrafagott kräftig rülpsen – bis dann die Katastrophe ihren Lauf nimmt. Das kann man eben nur dann gut spielen, wenn man ein Weltklasseorchester zur Hand hat. Hier erlebt man vergnüglich in Tönen, wie das Wasser spritzt, glitzert oder auch mal ganz plump "platsch" macht. Und die Philharmoniker haben kräftig aufgedreht und aus der ganzen Sache eine ziemliche Gaudi gemacht – auf höchstem virtuosem Niveau. So hatten alle ihre Freude ...
Andreas Göbel, rbbKultur