Lorenzo Viotti, Dirigent © Robin van Lonkhuijsen/ANP / dpa
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Staatsoper Unter den Linden - Lorenzo Viotti dirigiert die Staatskapelle Berlin

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Auch das jüngste Sinfoniekonzert der Staatskapelle Berlin musste Generalmusikdirektor Daniel Barenboim krankheitsbedingt absagen. Einspringer war Lorenzo Viotti, derzeit Chefdirigent des Netherlands Philharmonic Orchestra und der Nationalen Oper in Amsterdam.

Lorenzo Viotti wusste, worum es ging. Er war hervorragend vorbereitet, hat sehr genau und kompetent dirigiert. Bei der zehnten Sinfonie von Dmitrij Schostakowitsch, Hauptwerk des Abends, lag die Partitur zwar auf seinem Pult, er hat aber fast nie hineinblicken müssen.

Klar: eine große Chance für ihn – zumal er auch aus einer Musikerfamilie stammt. Sein Vater etwa ist der viel zu früh verstorbene Dirigent Marcello Viotti.

Großwerk (nicht nur) des 20. Jahrhunderts

Die Idee, Schostakowitschs Zehnte aufzuführen, stammte von Viotti selbst. Daniel Barenboim hatte noch Tschaikowskys Sechste angesetzt. Jetzt also russisches Repertoire aus dem 20. Jahrhundert. Und was für ein Werk! Schostakowitsch hat seine Sinfonie kurz nach dem Tod Stalins komponiert.

Das ist eine Abrechnung mit dem Stalinismus, unter dem auch Schostakowitsch zu leiden hatte. Eine Musik voller Tragik, Schmerz, Leid, voller Angst und Panik, auch voller Brutalität, da wird die akustische Gewalt im Orchester spürbar. Und wenn man das heute hört, kann man kaum anders als an die schrecklichen Bilder des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine zu denken. Es wird wohl kein Zufall gewesen sein, dass Lorenzo Viotti das gerade jetzt ausgewählt hat.

Moment der Hoffnung

Lorenzo Viotti muss mit dieser Sinfonie ringen. Der gigantische erste Satz, fast eine halbe Stunde lang, will den Riesenbogen nicht immer ganz halten, Intensität und Schmerz vermitteln sich hier nur ansatzweise. Selbst das brutale "Scherzo" will sein Entsetzen nicht ganz zeigen.

Erst im letzten Satz, ab einem traumhaft gespielten Oboensolo von Solo-Oboistin Cristina Gómez, schimmert hinter dem ganzen Grauen ein Moment der Hoffnung hervor. Ab hier vermittelt sich die Botschaft: Ungerechtigkeit muss ungeschönt thematisiert werden, aber man darf nie die Hoffnung aufgeben. Das ist dann deutlich geworden.

Die Staatskapelle hat Lorenzo Viotti hervorragend unterstützt, auch dort, wo es zunächst noch etwas statisch dirigiert war, vielleicht der Aufregung geschuldet, und am Ende hat man gut zusammengefunden. Viotti hat sein musikalisches Gespür demonstriert, er ist ehrgeizig und hat klare Vorstellungen von der Musik. Und mit 32 Jahren hat er noch alles vor sich.

Mega-Virtuose

Noch jünger als Lorenzo Viotti ist der Pianist Alexandre Kantorow: gerade einmal 25 Jahre alt, und schon Preisträger des Tschaikowsky-Wettbewerbs. Auch er hat einen bekannten Vater: den Geiger und Dirigenten Jean-Jacques Kantorow.

Was er in seinen Fingern hat, hat er sofort demonstriert: Wie ein 100-Meter-Läufer hat er auf seinen Einsatz gewartet und ist dann losgestürmt. Die ersten Oktaven in die Tasten gedonnert, die Läufe glitzernd und funkelnd. Irgendwie schien er sogar schneller zu spielen als sein Schatten ...

Vollblutmusiker

Das ist für Sergej Rachmaninows erstes Klavierkonzert eine gute Basis. Auch das Hollywoodartige, was diese Musik teilweise ausmacht, hat er angenehm präsentiert. Warum aber hat er gerade dieses Konzert ausgewählt? Eigentlich sollte er das erste Klavierkonzert von Franz Liszt spielen, das sehr viel gehaltvoller und anspruchsvoller ist.

Hatte Alexandre Kantorow Angst, sich mit einem zu bekannten Klavierkonzert allzu sehr der Konkurrenz auszusetzen und ist deswegen lieber auf das eher selten gespielte Erste von Rachmaninow ausgewichen? Ein Vollblutmusiker ist er zweifellos und hat einen brillanten Anschlag. Im Ausdrucksbereich, in der Fülle der Klangfarben ist noch Luft nach oben, aber das kann ja noch kommen – schließlich ist er noch jung, und das Talent dazu hat er allemal.

Andreas Göbel, rbbKultur

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