Philharmonie Berlin - Klavierabend mit Grigory Sokolov
Er ist eine absolute Anti-Diva: Studioaufnahmen und Interviews lehnt Grigory Sokolov ab, und die Programme seiner Klavierabende gibt er immer erst kurz vorher bekannt. Mehr als ein Programm pro Saison spielt er ohnehin nicht. Lange Zeit war er ein Geheimtipp - und jetzt reicht selbst der Große Saal der Philharmonie Berlin nicht aus, um allen Interessierten Platz zu bieten.
Auch diesmal drängte es sich - die Podiumsplätze waren nicht nur komplett belegt - man hatte noch drei Stuhlreihen davorgesetzt, um dem Andrang gerecht werden zu können. Und das für einen Pianisten, der für PR-Verhältnisse eigentlich eine Katastrophe ist. Auch diesmal: Schummerlicht auf der Bühne. Er eilt zum Flügel - eine knappe Verbeugung. Und dann geht es los.
17 Stücke in 37 Minuten
Darauf muss man erst einmal kommen: Musik von Henry Purcell in einem Klavierabend. Zunächst einmal: Das sind alles Cembalostücke, klar. Allzu viele hat Purcell nicht geschrieben. Sein diesbezügliches Gesamtwerk passt in zwei schmale Bände. Die 17 Stücke mit einer Gesamtdauer von 37 Minuten spielt Grigory Sokolov ohne Unterbrechung, gewissermaßen als Klang-Kontinuum. Immer ragt mal etwas heraus - da klingt es nach der Erkennungsmelodie einer BBC-Nachrichtensendung oder nach dem Thema von Brittens "Young Person's Guide to the Orchestra".
Sokolov packt das alles mit seinem Anschlag. Exquisit, voller Dichte, Funkeln und Leuchten. Es gibt bei ihm keine nebensächlichen Töne. Man würde ihm auch zuhören, wenn er "Alle meine Entchen" spielen würde. Jede Verzierung, jeder Triller wird zum Diamanten. Das hat etwas Künstliches, etwas Porzellanhaftes, aber das kann diese Musik auf einem Konzertflügel gut vertragen.
Mozart unter dem Vergrößerungsglas
In der zweiten Hälfte dann Mozart. Die Sonate KV 333 hört man öfter, aber auch hier erweist sich Grigory Sokolov als großer Erzähler am Flügel. Keine Figur, keine Geste ist da nebensächlich. Das mag man hier und da ein wenig steif und pedantisch finden, aber die Ernsthaftigkeit, mit der er diesem Werk begegnet, hinterlässt tiefe Spuren und räumt mit so manchem Klischeebild vom heiteren Wolferl kräftig auf. Kein Ton ist überflüssig, alles liegt unter dem Vergrößerungsglas.
Fast eine Provokation: das h-Moll-Adagio von Mozart am Schluss des offiziellen Teils des Konzertes. Eines der traurigsten Werke, die jemals geschrieben worden sind! Sokolov weiß, was diese Musik erfordert: keine Sentimentalität, sondern eine Kraft und Dichte, die einen in den Sessel drückt. Danach musste man erst einmal durchatmen.
Wie immer - sechs Zugaben
Es ist wie ein Ritual: Bei Grigory Sokolov gibt es immer genau sechs Zugaben. Und wie immer kommt er einmal raus, verbeugt sich, geht wieder, kommt wieder und setzt sich an den Flügel. Und das Publikum quittiert das mit immer sich steigernder Begeisterung, Jubel und stehenden Ovationen.
Diesmal als Draufgabe ein Gemischtwarenladen: zweimal Rameau, zweimal Chopin, Rachmaninow und Bach in einer Bearbeitung. Im Gedächtnis bleibt das B-Dur-Prélude von Sergej Rachmaninow. Für dieses Stück benötigt man eher drei Hände, man hört es immer wieder als Virtuosen-Kracher. Nicht so bei Sokolov. Mit welcher Poesie er das gestaltet hat - auch da wurde deutlich, welch musikalisches Genie er ist.
Andreas Göbel, rbbKultur