Schaubühne am Lehniner Platz - Die Anderen
Krimi und Thriller – das sind Genres, auf die man im Fernsehen und in der Literatur zuhauf stößt. Auf der Theaterbühne ist so ein richtiger Gruselschocker selten. Die belgische Theaterregisseurin Anne-Cécile Vandalem ist dafür allerdings Expertin. Mit einer Mischung aus Film und Theaterspiel bringt sie ihre eigens geschriebenen Thriller auf die Bühne. An der Schaubühne waren bisher Gastspiele von ihr zu sehen, jetzt hat Vandalem zum ersten Mal ein Stück mit dem dortigen Ensemble inszeniert.
Vandalem erschafft stets abgeschlossene Welten, die wie ein Kammerspiel funktionieren. Bei "Tristesses" war es eine abgelegene Insel, bei "Arctique" ein Schiff unterwegs in die Arktis. Hier spielt die Geschichte in einem kleinen Dorf abseits der Zivilisation, irgendwo in Mitteleuropa im Jahr 2023.
Zwischen Angst und Rachegelüsten
Seit acht Monaten regnet es. Mitten in der Nacht, mit zu viel Whisky intus, überfährt eine Frau, Alda (Jule Böwe), einen Fremden. Sie schleppt ihn zu sich und ihrem Mann nach Hause – beide betreiben ein marodes Hotel, in das sich schon ewig keiner mehr verirrt hat. Durch die aufgebrachten Dorfbewohner erfahren wir, dass es streng verboten ist, Fremde zu beherbergen. Seit "der Sache", die als düstere Leerstelle im Raum steht. Die Bewohner, auf die der Fremde mit Namen Ulysses trifft, sind unheimlich: Alda schwärmt von ihrem Sohn Emil, den aber nie jemand zu Gesicht kriegt. Eine zweite Frau, gespielt von Stefanie Eidt, hält Ulysses für ihren toten Mann – und kann sich nicht entscheiden, ob sie ihn umbringen oder mit ihm schlafen soll. Weit und breit gibt es kein einziges Kind. Das ganze Dorf schwankt zwischen Angst vor dem Ausländer und Rachegelüsten.

Klassische Spannungs-Mechanismen
Was das große dunkle Geheimnis ist und wer am Ende geopfert werden muss, lässt sich durch die Fährten, die Vandalem legt, relativ schnell erahnen. Und doch folgt man in diesen gut zwei Stunden gebannt der Geschichte – denn die Regisseurin setzt sie hoch professionell in Szene. Zum Einen mit klassischen Genre-Mechanismen: ein dunkel-dräuender filmischer Soundtrack, eine düstere Szenerie, im fahlen Licht der Straßenlaterne glitzern die Regentropfen. Es gibt unheimliche Traum-Symbole, immer wieder tauchen ausgestopfte Tiere auf, Rotkehlen, Füchse, Gänse. Mit einer Schamanin, die einen Fuchskopf mit scharfen Zähnen als Mütze trägt, kommt außerdem ein Mystery-Element dazu.
Wechselspiel zwischen Theater und Film
Vor allem aber versteht es Vandalem, durch den Wechsel von Theaterspiel im Hotel auf der Drehbühne und Live-Video auf der Leinwand über der Bühne, das im Inneren der Zimmer spielt, zwischen digitalem Close-up und Körper auf der Bühne eine Spannung herzustellen. Sie zitiert Dogma-Filme von Lars von Trier, erinnert auch mal an David Lynch. Aber Vandalem ist weniger an Psychologie interessiert als an der Spannungsmechanik.
Schwarzer Humor
Für die Schauspieler ist das keine ganz leichte Aufgabe, sie müssen sekundenschnell umschalten zwischen reduziertem Kameraspiel und großem Bühnenspiel für den ganzen Saal. Vor allem Jule Böwe als depressiv-nölige Alkoholikerin Alda macht das sehr unterhaltsam. Man darf sich den Abend nicht als todernste Veranstaltung vorstellen – Vandalem liebt schwarzen Humor. Wenn jeder Bewohner an jeder Haustür die Schuhe ausziehen und strümpfig herumlaufen muss, bricht das einfach den Grusel: Kein Mensch wirkt beängstigend in bunt gemusterten Socken.
Hotel "Zum Alten Kontinent"
Der Titel "Die Anderen", das Thema der Fremden, die man nicht aufnehmen möchte oder darf, deuten natürlich unübersehbar auf politische Motive hin. Der andauernde Regen und die Rede von Waldbränden im Süden, die die Menschen zur Flucht drängen, sind Hinweise auf den Klimawandel. Das Hotel, durch das der Regen tropft und dessen Tür klemmt, trägt zudem den sprechenden Namen "Zum Alten Kontinent" – noch deutlicher geht’s kaum, dass damit Europa gemeint ist, das seine Türen vor Fremden verschließt. Das Politische ist jedoch nur Dekor – wer mehr erwartet, wird enttäuscht sein.
Zentrales Motiv: Schuld
Viel deutlicher dominiert ein archaisches Motiv, das am Ende noch explizit durchexerziert wird: das der Schuld, die nach einem Opfer verlangt.
Hoch professionell inszenierte, spannende Unterhaltung
Vandalem inszeniert hier weniger grotesk als in ihren früheren Arbeiten, in denen immer mal wieder Zombies oder Eisbären aus dem Nichts aufgetaucht sind. Diese vergleichsweise realistische Tendenz macht den Thriller letztlich stringenter. Ein Abend mit nicht mehr und nicht weniger als hoch professionell inszenierter, spannender Unterhaltung.
Barbara Behrendt, rbbKultur