Schaubühne am Lehniner Platz - "Ödipus" von Maja Zade
Mit der Inszenierung von Thomas Ostermeier kommt nun der vierte "Ödipus" innerhalb von vier Wochen in Berlin auf die Bühne. Für die Schaubühne hat Maja Zade den antiken Mythos in eine Unternehmerfamilie verlagert. Sie lotet in ihrem Stück aus, was es bedeutet, wenn nichts, was als sicher gilt, mehr Bestand hat.
Schon der erste Akkord verkündet Unheil. Die Bühne ist dunkel. In einem Quader aus Neonröhren ist ein moderner Küchentresen erkennbar. Eine Sphinx flimmert auf einem großen Bildschirm. So viel Mythologie muss sein. Dabei will sich Thomas Ostermeier von der Antike lösen. Er hat bei Maja Zade bewusst keine Bearbeitung der Tragödie von Sophokles bestellt, sondern ein neues Stück.

Ein Ferienhaus irgendwo in der Ägäis
Es spielt im Ferienhaus einer deutschen Unternehmerin irgendwo in der Ägäis. Christina hat die Firma nach dem Tod ihres Mannes übernommen. Sie hat einen neuen, wesentlich jüngeren Freund und ist schwanger. Wie verliebt die beiden sind, sieht man auf den ersten Blick. Michael geht morgens joggen, Christina mixt sich einen Smoothie. Da taucht überraschend ihr Bruder auf. Er ist Manager in Christinas Firma und will Michael zur Rede stellen. Der Anlass ist die Untersuchung eines Chemieunfalls, die Michael in die Wege geleitet hat, ohne irgendjemanden im Unternehmen zu informieren.
Rasch wird klar, dass er derjenige ist, der Sophokles‘ Titelfigur entspricht.
Vergiftetes Grundwasser als Seuche in Zades Stück
Ödipus will in der antiken Tragödie ein Verbrechen aufklären, das die Ursache einer Seuche ist, die seine Heimatstadt bedroht. In Maja Zades Stück geht es um vergiftetes Grundwasser. Einige Kinder in der Nachbarschaft sind schon krank geworden. Trotzdem möchte die Firma die Sache vertuschen. Doch Michael macht nicht mit. Er ahnt nicht, dass er den Unfall, bei dem die Chemikalien verschüttet worden sind, selbst verursacht hat.
Im Streitgespräch mit Christina und Robert kommt die Wahrheit Stück für Stück ans Licht. Der verunglückte LKW-Fahrer war Christinas Mann und Michaels Vater. Michael hat, wie der antike Ödipus, seinen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen.
Hervorragendes Ensemble und eine glaubwürdige Verlegung der Geschichte ins Heute
Dass es gelingt, diese archaische Geschichte ins Heute zu verlegen und auf eine psychologisch glaubwürdige Weise zu erzählen, ist ein ziemlicher Coup. Thomas Ostermeier setzt sie mit einem hervorragenden Ensemble in Szene. Caroline Peters als Firmenchefin ist überragend. Mit einem inneren Strahlen zeigt sie eine selbstbewusste Frau, die glaubt, das Glück ihres Lebens gefunden zu haben. Als herauskommt, wer Michael wirklich ist, versteinert sie regelrecht. Ihr Gesicht wird in den entscheidenden Szenen auf einen großen Bildschirm übertragen. Es wirkt authentisch bis ins kleinste Augenzucken.

Auch Renato Schuch als Michael ist oft in Großaufnahme zu sehen. Doch bei ihm bringt das Videobild Übertreibungen ans Licht, die sonst weniger aufgefallen wären – zu weit aufgerissene Augen, ein zu sehr im Entsetzen eingefrorenes Gesicht – und das zu einem Zeitpunkt als die Figur von ihrem tragischen Schicksal noch nichts ahnt. Weniger wäre mehr gewesen.
Aufrüttelnd und zeitgemäß
Doch alles in allem geht in der Inszenierung die Rechnung auf. Die antike Tragödie lässt sich ins Heute übertragen und kommt ohne die übergeordnete Instanz der Götter aus. Die Menschen sind also nicht schuldlos schuldig, sondern tragen die volle Verantwortung für ihr Tun – eine aufrüttelnde, durch und durch zeitgemäße Botschaft.
Oliver Kranz, rbbKultur