Schaubühne am Lehniner Platz - Eröffnungsabend: FIND - Festival Internationale Neue Dramatik 2021
2020 musste FIND, das Festival Internationale Neue Dramatik ausfallen – viele der Stücke wurden nun in diesem Jahr erneut eingeladen. Den Anfang machten Kirill Serebrennikov mit "Outside" und Alexander Zeldins "Love".
Die Produktion des renommierten russischen Regisseurs und Autors, der wegen seiner regimekritischen Kunst lange in Moskau im Hausarrest festgehalten wurde, war am Eröffnungsabend die deutlich opulentere.
"Outside": Hommage und imaginiertes Zwiegespräch
Serebrennikov zeigt in "Outside" nicht nur Sprechtheater, sondern eine Mischung aus Choreografie, Bildertheater und Musik. Keyboards und Synthesizer kommen live zum Einsatz – zwischendurch klingt das wie asiatischer, knalliger Synthie-Pop aus den 80ern. Das hat inhaltliche Gründe: "Outside" ist eine Hommage an den chinesischen Fotografen und Poeten Ren Hang. Der hatte wegen seiner provokanten Kunst ebenfalls unter Repressionen zu leiden. Serebrennikov und Hang planten, zusammen zu arbeiten – doch zwei Tage, bevor sie zum ersten Mal telefonieren wollten, stürzte sich der Fotograf mit nur 29 Jahren aus dem Fenster. Serebrennikov konnte die Idee der Zusammenarbeit trotzdem nicht loslassen.
"Der Tod reicht als Grund nicht aus, um aufzuhören zu kommunizieren", sagte er. Und so verweist alles in diesen beiden Theaterstunden auf Fotografien und Gedichte von Hang, auf Gefangenschaft und Isolation – und ist zudem ein imaginiertes Zwiegespräch der beiden Künstler.

Schwulst und Beliebigkeit
Ren Hang provozierte das chinesische Regime nicht mit politischen Aussagen, sondern mit seiner Darstellung von Nacktheit, seiner spielerischen, ganz eigenen Sicht auf Körper und Geschlecht. Ein Foto von Hang, das Serebrennikov auf der Bühne beschreiben lässt, ist das einer Frau mit einer Zigarette in der Vagina, bei einem anderen sitzt ein schwarz-weißer Schmetterling auf dem gespreizten Anus einer Frau.
Serebrennikov versucht, diese Art von lustvollen, poetischen Bildern zu imitieren – doch zu sehen ist kaum mehr als Schwulst und Beliebigkeit. In einer Choreografie der Nackten wedeln die Schauspieler:innen mit langen Stielblumen, später halten sie grüne Blätter in der Hand oder leuchtende Sterne. Wie im Zirkus fühlt man sich, wenn vor einem knallroten Samtvorhang Kunststücke einer Frau ohne Kopf oder mit vier Beinen zu sehen sind.
Doch Freiheit, Schönheit, Lebendigkeit, die Serebrennikov so unbedingt feiern möchte, gerinnen hier zu einer einstudiert wirkenden, dekorativen Tanznummer. Es fehlt der Furor einer Künstlerin wie Angélica Liddell (sie wird beim Festival mit zwei Arbeiten zu sehen sein), die mit vollem Einsatz und unter größter Absturzgefahr auf die Bühne tritt. Bei Serebrennikov hat alles doppelten Boden. Ohnehin bleibt fraglich, ob Ren Hangs Poesie und Fotografie überhaupt die Bühne benötigt.
"Love": Anteilnahme für die sozial Schwachen
Der britische Theatermacher Alexander Zeldin, der zum ersten Mal in Berlin zu sehen ist, präsentiert ein diametral anderes Theater als Serebrennikov. "Love" ist der zweite Teil der Trilogie "The Enequalities" ("Die Ungleichheiten"), die sich mit sozialer Ungleichheit in Großbritannien auseinandersetzt. Teil Eins wurde international gefeiert und wird von Zeldin 2022 mit dem Schaubühnen-Ensemble neu inszeniert – doch auch der zweite Teil macht deutlich, was Zeldins Theater so interessant macht: Man könnte ihn als den Ken Loach des Theaters bezeichnen. Der britische Filmregisseur Loach ist für seine berührenden Sozialdramen berühmt, Zeldin bringt eine ähnliche Anteilnahme für die sozial Schwachen auf.
Schlichter Realismus
In einem hyperrealistischen Setting ist auf der Bühne eine Notunterkunft des Sozialamts zu sehen, jeder Familie ist ein Zimmer zugeteilt, Küche und Bad müssen sich alle Parteien teilen. Eine abgeranzte Einrichtung, Neonlichter an der Decke, dazu der uralte Heizkörper – man kann den Mief dieser Möbel und der ungelüfteten Zimmer förmlich riechen. Hier porträtiert Zeldin unterschiedliche Gestrandete: eine arabisch sprechende Afrikanerin, die ohne Familie nach Großbritannien gekommen ist; ein mittelalter Pechvogel, der sein Zimmer mit seiner pflegebedürftigen Mutter teilt; die Familie mit den beiden Kindern, die hoffen, dass sie wie vom Sozialamt versprochen nur sechs Wochen bleiben müssen, bis sie eine eigene Wohnung zugeteilt bekommen.
Derweil ereignet sich auf der Bühne so gut wie nichts. Wir sehen den Menschen beim Warten zu: beim Warten auf den nächsten Termin beim Sozialamt, in der Telefonwarteschleife, darauf, dass endlich einmal gute Nachrichten eintreffen, dass es Arbeit oder Geld fürs Abendessen gibt – oder schlicht beim Warten darauf, dass das Badezimmer frei wird.
Keine bahnbrechende Inszenierungsidee, doch die Schicksale dieser Menschen, die versuchen, in Würde zu leben, kommen einem unvermittelt nahe – auch wenn Zeldin sie hier und da in Stereotype treibt.
In seinem schlichten Realismus, mit dem Zeldin eindrücklich die Brutalität des britischen Sozialsystems vorführt, ist "Love" der deutlich interessantere und bewegendere Teil des Eröffnungsabends.
Barbara Behrendt, rbbKultur