Berliner Ensemble - "Möwe"
Ein Vorsprechen gehört zu den aufregendsten Situationen einer Schauspielerin: wenige Minuten auf der Bühne, die über die Karriere entscheiden, ausgesetzt den kritischen Blicken der Intendanten und Regisseure im Parkett. Im Fall der jungen Schauspiel-Studentin Lili Epply war das Vorsprechen ein voller Erfolg: Nicht nur wurde sie nach ihrem Abschluss direkt ans Berliner Ensemble engagiert – das Theater bat sie auch, das Solo, das sie beim Vorsprechen gegeben hatte, zu einem eigenen Theaterabend auszubauen.
Und so feierte am Berliner Ensemble "Möwe" Uraufführung – jene Tschechow-Adaption, die Epply fürs Vorsprechen mit der Burgtheater-Schauspielerin Sarah Viktoria Frick erarbeitet hatte, und die sie nun gemeinsam mit der Autorin Anne Kulbatzki weiterentwickelt hat – eine gemeinsame Arbeit dreier Künstlerinnen also.

Ein großer Traum
Vor den rosa Vorhang tritt zu Beginn des Abends eine junge Frau, die man fast für eine klassische Ballerina halten könnte: kurzes Tütü, ausladendes Dekolleté, streng gescheiteltes und zum Knoten gebundenes Haar. Nur die glänzenden Highheels passen nicht. Sie stellt sich als Nina Michajlowna Seretschnaja vor. "Ich bin 1896 geboren und ich komme aus Tschechow. Und das ist mein Profil." Sie dreht sich zur Seite und drückt die Brüste nach vorn. "Ich bin hier, um mich zu bewerben, zu werden feste Ensemblemitglied an die Berliner Ensemble. Ist große Traum von mir."
Deshalb ist die Aufgabe dieser Schauspielerin Nina aus dem Tschechow-Klassiker "Die Möwe", der Lili Epply einen unangenehm aufgesetzten russischen Akzent gibt, einen eigenen Abend zu gestalten und das Publikum für sich zu gewinnen – damit sie, so das Ziel, am Ende der Show engagiert wird und auf der Homepage des Berliner Ensembles erscheint.
Kritik am Theaterbetrieb
Ein Stück im Stück also, eine Meta-Figur, die, wie Epply selbst vor ihrem Engagement, ein Vorsprechen bewältigen muss. Wenn Nina beschreibt, worum es an diesem Abend gehen könnte und alle Diskurs-Themen aufzählt, die das Theater derzeit durchhechelt, klingt da deutlich Kritik am Theaterbetrieb an: "Es werden sein viele verschiedene Formen gefüllt mit wichtige und aktuelle Themen, wie: Sprache und Sein, gendergerechte Sprache, Feminismus, Identitätspolitik, Rassismus, Klassismus, Homophobie, #metoo, Diversität, Besetzungspolitik, Repräsentation in Theater und Film, wie wollen wir Leben, Klima, Oktopusse, Korallen.“
Nina entscheidet sich für sechs Szenen, die ihre schauspielerische Bandbreite veranschaulichen sollen – mit denen Epply allerdings die gängigen Theatertrends auf die Schippe nehmen möchte. Die Beatrice aus Shakespeares "Viel Lärm um Nichts" gibt sie als rotzige, breitbeinig sitzende Proll-Tussi, als Goethes Gretchen pickt sie sich, Stichwort Körpertheater, pantomimisch aus einem Ei heraus. Und als der Brechtsche Verfremdungseffekt dran ist, singt sie einen aufklärerischen Song, in dem unter anderem Machtmissbrauch zum Thema wird.
Epply bedient genau jene Frauenklischees, die die Produktion entlarven möchte
Lili Epply spielt alle Rollen mit unglaublich viel Lust, Verve und Intensität. Ihre Energie springt einem geradezu ins Gesicht. Trotzdem hat dieser Abend zwei große Probleme. Zum einen ist das sein Insidertum. Witze über eine gewisse Simone Stein verstehen eben nur Theater-Nerds, die sich denken können, dass damit der Regisseur Simon Stone gemeint ist. Und was bringt eine Szene, in der Romeos Julia eine sinnlose Textfläche spricht? Nur der Theater-Blase ist klar, dass das jene Texte ohne Punkt und Komma kommentiert, wie Elfriede Jelinek sie schreibt. Mit Tschechows "Möwe" hat das alles rein gar nichts zu tun, auch wenn das Programmheft das behauptet.
Schwerer wiegt allerdings, wie Epply genau jene Frauenklischees bedient, die die Produktion entlarven möchte. Warum steckt die junge Wiener Schauspielerin, die alle gängigen Schönheitsideale vereint, in einem kurzen Kleidchen mit tiefem Dekolleté, reißt die Augen auf, schlägt sie nieder – und macht aus der Figur Nina auf diese Weise ein naives klischee-russisches Püppchen, das allen Männerfantasien entspricht? Warum imitiert sie das niedliche, wütende Mädchen, das seine Schuhe nicht finden kann – ohne diesem Bild etwas entgegenzustellen?

Irritierender Nachgeschmack
Die Inszenierung legt natürlich nah, dass es diese Frauenrollen für vorsintflutlich hält – führt sie aber paradoxerweise trotzdem auf. Epply zeigt, dass sie all diese zuckersüßen und erotisch-frechen Stereotype bedienen kann – und wird dafür engagiert.
Am Ende erscheint Nina tatsächlich auf der Homepage des Berliner Ensembles – sie hat es geschafft, genau wie Lili Epply im richtigen Leben. Dass die Intendanz des Berliner Ensembles nun ausgerechnet dieses Vorsprechen mit stereotypen Sexsymbolen (und deren Brechung) als herausragend bezeichnet und als eigenen Abend ins Programm nimmt, hinterlässt zumindest einen irritierenden Nachgeschmack.
Barbara Behrendt, rbbKultur