Deutsches Theater - "Der Einzige und sein Eigentum"
Es ist schon rebellisch, was der eher unbekannte Philosoph Max Stirner 1844 in seinem Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum" formuliert: ein Plädoyer für einen radikalen Egoismus und dafür, dass allein der Einzelne Verantwortung für sein Handeln übernehmen könne. Stirners Thesen sind nun auch Gegenstand eines opulenten Stück Musiktheaters, das der Regisseur Sebastian Hartmann zusammen mit dem Komponisten und Musiker PC Nackt und seinem Ensemble am Deutschen Theater präsentiert.
Der Titel des Abends bezieht sich auf eine theoretische Schrift von Max Stirner. Aber wer ist Max Stirner? Der Philosoph hat Karl Marx, Friedrich Engels und Friedrich Nietzsche beeinflusst, ist dann aber weitgehend vergessen worden. "Der Einzige" ist in Stirners Philosophie der Mensch, der sich selbst gehört. Der sich von allen Vorgaben der Gesellschaft frei gemacht hat. Stirner legt also ein Modell des radikalen Individualismus und Egoismus vor.

Modell des radikalen Individualismus und Egoismus
Sein Hauptwerk "Der Einzige und sein Eigentum" ist 1845 erschienen und spottet über die Philosophen, die die Aufklärung für abgeschlossen hielten. Verkürzt könnte man mit Stirner sagen: Es reicht nicht, den Gott in der Welt abzuschaffen, solange es das "Jenseits in uns" gibt, die Moralvorstellungen, die uns an die Gemeinschaft binden. Freud würde es das "Überich" nennen, das Stirner überwinden möchte.
Stirners Philosophie hat zwei Seiten: Einerseits verweigert sie jedes eingespannt werden für die gesellschaftlichen Institutionen. Darin steckt auch der Aufruf zum Selberdenken, zur Opposition zu Massenphänomenen. Andererseits ist es eine hochgradig asoziale Freiheit, die er propagiert: "Mir geht nichts über mich." Darin steckt beides: Keiner steht über mir – aber auch: "Ich" ist das Einzige, was zählt.
Ein als "Musiktheater" angekündigter Abend
Sebastian Hartmann ist nun kein Regisseur mit moralischer Agenda oder pädagogischem Auftrag. Er möchte viel mehr die Abgründe des Menschseins ausloten. Er nutzt literarische Vorlagen höchstens als Assoziationsmaterial für das, was ihn selber umtreibt, zuletzt Düsteres: das Sterben, die Einsamkeit, der Tod, die Frage, was vom Leben bleibt.
Bisher hat er sich stets die großen Stoffe der Weltliteratur ausgesucht – Dostojewski, James Joyce, Thomas Mann – nur, um dann die Geschichten darin auszusparen und die Lebensfragen hinter den Stoffen zu stellen. Warum also nicht gleich die großen Fragen behandeln? Gut vorstellbar, mit Stirners provokanten Thesen unserem eigenen Egoismus den Spiegel vorzuhalten. Auch, weil der Abend als "Musiktheater" angekündigt wird – Stimmungen, Assoziationen liegen also nah. Doch was dann zwei Stunden lang auf der Bühne zu sehen ist, enttäuscht.
Songs von Beliebigkeit und Schlichtheit
Es ist ganz unverkennbar Hartmanns Bühnenästhetik: Der Nebel wabert, die Bühne dreht sich, alle Schauspieler:innen sind in historisch anmutende schwarze Anzüge und Gewänder gehüllt, tragen schwarze Hüte, die Augen sind expressionistisch schwarz geschminkt, später tragen alle schicke Glitzer-Roben.
Auf der Bühne dreht sich eine zylinderförmig aufragende Spirale, die das Ensemble zu zermalmen droht. Vor der Bühne zwei Musiker: der Komponist PC Nackt am Klavier und Earl Harvin am Schlagwerk. Sie spielen eine große musikalische Bandbreite, von sphärischen Klängen über Schlager-Pop, bis hin zu elektronischen Beats. Die Schauspieler:innen singen im Chor, während sie dieser kreisenden Spirale zu entkommen versuchen.
Bis auf wenige Ausnahmen sind die Songs von einer Beliebigkeit und Schlichtheit, dass man Max Stirner kaum wiedererkennt: "Natur in Gedanken / Leerheit muss mich schwanken / der Geist so feist und dreist / wird mich dann schwanken / als Gedanken" – die große Kunst des Dichtens ist das nicht.
Groß ausgestellte Gefühle wirken ironisch gebrochen und unfreiwillig komisch
Zudem ist das Pathos im Spiel und in den Bildern hohl. Die Gesichter des Ensembles werden via Handkamera groß auf der weißen Spirale projiziert: Linda Pöppel, in deren Augen schon die Tränen glitzern, bevor sie das erste Wort gesprochen hat; Anja Schneider, weinend in Felix Goesers Armen, plötzlicher Tod, weitaufgerissene Augen. Die groß ausgestellten Gefühle wirken ironisch gebrochen und unfreiwillig komisch.
In einer späteren Szene sollen die Zuschauenden die 3-D-Brille aufsetzen, die alle am Eingang bekommen haben: Eine Biene fliegt durchs 3-D-Bild, Waben verformen sich zu menschlichen Häusern, bevor alles zerrinnt. Hübsch, aber nichts als kunstfertige Oberflächenreize.
Eine einzige provozierende Szene, die das Hirn bemüht und den "Denkraum öffnet", wie Hartmann es stets intendiert, gibt es aber doch, wenn Elias Arens seinen Monolog über Max Stirners Auffassung von Recht hält: "Ist es mir recht, so ist es recht." Mord ist in dieser Selbstjustiz inbegriffen.

Große, leere Worte
Abgesehen davon leistet sich der Abend den Luxus, weltgeschmerzt in großen, leeren Worten zu schwelgen, statt sich mit den Theorien Stirners und dem Egoismus unserer eigenen Realität auseinanderzusetzen. Da gäbe es ja einiges zu sagen.
Barbara Behrendt, rbbKultur